Ziergiebel, Jürgen

Wer übt, hat’s nötig!

Modellvorstellungen zum instrumentalen Übungsprozess

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Logos, Berlin 2006
erschienen in: üben & musizieren 3/2007 , Seite 58

Jürgen Ziergiebel möchte die reiche Faktenlage der Neurowissenschaften und der Psychologie nutzen, um Modelle zum Übeprozess vorzustellen. Die Schrift soll kein Lehrbuch und keine Anleitung zum „richtigen Üben“ sein. Sie soll lediglich „Hintergründe des Übungsprozesses“ deutlich machen. Gleichzeitig soll auch der Unterricht mit AnfängerInnen im Mittelpunkt stehen.
Der knappe Text, auf etwa 130 Seiten gestreckt, beschäftigt sich mit Themen wie Lernen, Begabung, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Grundformen des motorischen Lernens, mentalem Training, neurologischen Modellen der Informationsverarbeitung und Bewegungssteuerung und vielem mehr. Bei der Vielzahl der behandelten Teilaspekte fällt bald auf, dass der Autor sich offensichtlich überfordert hat. Im Grunde wird keines der interessanten Teilgebiete ausführlich genug behandelt. Tragfähige, wissenschaftlich begründete Modellvorstellungen zum Übeprozess kann der Autor deshalb meines Erachtens auch nicht anbieten.
Im siebten Kapitel beispielsweise geht Ziergiebel auf das „Üben und Konditionieren“ ein, indem er rudimentär die Theorien von Skinner, Pawlow und Köhler vorstellt. Was die wesentlichen Experimente und Ergebnisse der verschiedenen Forschungsrichtungen sind, wird nicht dargestellt. Die markanten Unterschiede zwischen den drei Theorien werden an keiner Stelle geklärt. Die interessanten und weit reichenden Konsequenzen für das musikalische Lernen können so auch nicht im Ansatz aufgezeigt werden.
Ein weiteres Beispiel mag die Auseinandersetzung mit dem mentalen Training in Kapitel 11 „Die gedachte Bewegung“ zeigen. „Carpenter-Effekt“ und „ideomotorisches Gesetz“ bilden den Ausgangspunkt. Unversehens springt Ziergiebel jedoch zur „Leimer-Gieseking“-Methode über. Diese widmet sich jedoch vorzugsweise nicht dem Lernen/Üben durch Vorstellen (Denken) der Bewegungsvollzüge, sondern der mentalen Texterarbeitung bis hin zur vollkommenen auswendigen Beherrschung des Werks. Offensichtlich wird auch hier wieder, dass Ziergiebel sich nicht genügend mit der Thematik beschäftigt hat und gleichzeitig nicht über die notwendigen eigenen Erfahrungen verfügt. Die Folge ist, dass er die außerordentliche Bedeutung und Vielseitigkeit des mentalen Übens verkennt.
Bedauerlich ist im Übrigen, dass Ziergiebel allzu unkritisch Musikeranekdoten als Belegmaterial benutzt. Wenn Casals über Musiker wie Albéniz und Sarasate berichtet, sie würden nie üben, so ist das unglaubwürdig, insbesondere wenn die spezielle und unauffällige Form ihres Übens (mentalen Übens!) unerwähnt bleibt.
Diese Schrift genügt weder dem selbst gesetzten Ziel noch vermag sie wissenschaftliche Qualitätsansprüche zu erfüllen. Der saloppe und wenig verständliche Titel fällt da kaum ins Gewicht.
Anselm Ernst

Es folgt: Eine Replik des Autors zur Rezension von Anselm Ernst
Der Rezensent beginnt löblicherweise mit einigen wichtigen Prämissen meines Buchs: Keine Übeanleitung, kein Lehrbuch, Darstellung von Hintergründen des Übungsprozesses, im Mittelpunkt steht der Unterricht von Anfängern und Anfängerinnen. Respekt gebietet auch seine vorangestellte persönliche Anmutung: „Im Grunde wird keines der interessanten Teilgebiete ausführlich genug behandelt. Tragfähige, wissenschaftlich begründete Modellvorstellungen zum Übeprozess kann der Autor deshalb meines Erachtens auch nicht anbieten.“ Danach moniert er, dass ich im 7. Kapitel nicht die „wesentlichen Experimente und Ergebnisse … der Theorien von Skinner, Pawlow und Köhler“ behandelt habe und: „die markanten Unterschiede zwischen den drei Theorien werden an keiner Stelle geklärt.“
Wie die Leser dieser Rezension anfangs erfahren, soll mein Buch aber kein Lehrbuch sein. Was sie nicht erfahren, ist, dass ich sehr wohl eine „interessante, weitreichende Konsequenz aufzeige”. Sie ist auf Seite 44, als eine der wenigen Stellen des Buchs, sogar im Fettdruck dargestellt.
Nun wird es unangenehm! Als ein zweites Beispiel für seine Kritik nimmt er sich das Kapitel 11 vor: „Die gedachte Bewegung” – meine Auseinandersetzung zur Modellvorstellung der Technik des mentalen Übens/Trainings. Nach Meinung des Rezensenten haben weder „Carpenter-Effekt“ noch das „Ideomotorische Gesetz“ etwas mit der Methode des Autorenpaars Leimer-Gieseking zu tun: „sondern der mentalen Texterarbeitung bis hin zur vollkommenen, auswendigen Beherrschung des Werks.“ Es fällt ins Auge, dass der Rezensent nicht bemerkt, dass die mentale Texterarbeitung zu den unerlässlichen Bedingungen des mentalen Trainings gehört. (Im übrigen gilt das Buch von Leimer-Gieseking unter Musikern als eine anerkannte Schrift zum mentalen Üben!)
Tatsächlich gibt es noch viel mehr Literatur über das mentale Üben, als ich verwendet habe. Und tatsächlich habe ich selbst auch keine systematisch gelernten Erfahrungen mit dem mentalen Üben. Doch um aufzuzeigen, dass für den ersten Instrumentalunterricht – siehe oben – diese Technik in aller Regel
n o c h nicht verwendbar ist, genügten mir wörtlich aufgeführte Zitate aus der angegebenen Fachliteratur.
Geradezu fahrlässig ist die Behauptung, ich würde Musikeranekdoten verwenden, um damit zu unterstellen, dass Meister wie Albéniz oder Sarasate „nie üben würden“. Zur Erinnerung: Eine Anekdote ist eine unbelegbare oder/und unbeglaubigte Erzählung bzw. Begebenheit! Ich habe aber aus der Autobiografie Casals’ korrekt zitiert, nicht etwa bloß nach meinem Gutdünken interpretiert. (Pablo Casals kannte diese Künstler aus freundschaftlicher bzw. persönlicher Nähe und nicht vom „Hörensagen“!)
Doch grob fahrlässig wird es, wenn im selben Atemzuge behauptet wird, ich hätte „… die spezielle und unauffällige Form ihres Übens (mentalen Übens!) unerwähnt“ gelassen. Mehr als eine ganze Seite (S. 69-70) beschäftigt sich mit genau diesem Gedanken und zwar in eben diesem Kapitel 11!
Der abschließende Satz des Rezensenten Anselm Ernst wird leider nicht ganz klar. Ist der Buchtitel nun wenigstens das einzige „Gewicht“ der ganzen Schrift oder genügt auch er „dem von mir gesetzten Ziele“ nicht?
Jürgen Ziergiebel