Hubrich, Sara
Where the magic happens…
Interpretation als kreative Kunst im Spektrum von Improvisation und Komposition
Gehört es nicht zum Zauber besonders packender Interpretationen, dass sie den Eindruck erwecken, sie würden im Moment der Aufführung neu und tiefgründig erfunden? Wir wissen von vielen großen Meistern, dass sie extemporiert und damit ihre ZuhörerInnen stets aufs Neue fasziniert haben. Der Pianist und Pädagoge David Dolan und andere KünstlerInnen erwecken diese Praxis, die aktuell eher im Bereich des Jazz, der Neuen Musik oder Weltmusik Konjunktur hat, wieder – als Kunst der Interpretation auch von “klassischer” Musik. Eine Anregung zu erstaunlichen Auseinandersetzungen mit gängiger Interpretationspraxis.
Das Wort Improvisation, abgeleitet von lat. „improvisus“ (ital. „improvviso“), steht als Kompositum für das „nicht-vorhersehbare“ oder das „un-erwartete“ Ereignis, während der Begriff des Extemporierens das Erfinden einer Idee im Moment der Aufführung hervorhebt. Gehen wir davon aus, dass musikalische Gestaltungen zu weiten Teilen mit dem Hervorrufen von Erwartungen spielen, die dann im Verlauf eingelöst werden, oder eben gerade nicht, so kann das unerwartete Ereignis als ein Kernaspekt von Musizieren überhaupt verstanden werden. Diesen Kernaspekt des Musizierens können, so David Dolan, Interpretationen mit improvisierten Anteilen in das Bewusstsein von SpielerInnen und HörerInnen rücken.1 Sogenannte musikalische Schemata bilden das Material, mit dem ad hoc kommuniziert wird.2
In der westlichen Musik war Improvisationspraxis bis ins 18. Jahrhundert als Komposition in Echtzeit weit verbreitet .3 Klare Abgrenzungen zwischen Komposition, Interpretation und Improvisation wurden daher in vielen Schriften kaum für nötig erachtet.4 In historischer wie aktueller Interpretations- und Unterrichtspraxis besteht weitgehende Übereinkunft darüber, dass Ausführende ganz im Dienste einer Partitur zu stehen haben und sich vor allem als Medium für die gestalterischen Ideen begreifen sollten, die im Werk selbst verankert sind. Mit der weit verbreiteten Faszination an technischer Präzision bleibt Interpreten daher oft nur ein schmaler Pfad, auf dem schöpferische und spontane Aspekte eingebracht werden können. Juniper Hill argumentiert, dass diese Konventionen der im 19. Jahrhundert entstandenen und heute noch wirksamen Konzertform eine gewisse kreative Hierarchie mit sich gebracht haben, derzufolge KomponistInnen das schöpferische Monopol zugedacht ist. Diese Auffassung ist in der Aufführungspraxis weithin spürbar und wird selten hinterfragt.5
„Was uns ergreift“ – der Zauber der spontanen Mitteilung
Als eine Art Gegenbewegung dazu weist Vinko Globokar in seinem Aufsatz „Der kreative Interpret“ darauf hin, dass MusikerInnen durch ihre Beziehung zum Werk, zum Komponisten oder zur Komponistin und auch zum Publikum eine für die Musik selbst bedeutsame und wertzuschätzende Schnittstelle im Moment der tatsächlichen Vermittlung der Musik sind.6 Aus der Sicht des Philosophen Christopher Small stehen Interpreten in einem weit gefassten Begriff von Interpretation vielfältige und vielschichtige Ansätze und Aktivitäten zur Verfügung, die weit über die klingende Realisation eines Notentextes hinausreichen.7 Zu diesem Potenzial kann beispielsweise Hans Zenders Winterreise als „komponierte Interpretation für Tenor und kleines Orchester“ gezählt werden.
Einem ähnlichen Interpretationsverständnis folgen weitere KünstlerInnen, zum Beispiel der japanische Musiker Isao Tomita mit seiner Synthesizer-Version von Debussys Clair de Lune8 oder Midori Seiler und die Akademie für Alte Musik Berlin in ihren choreografierten Vier Jahreszeiten.9 In diesem Zusammenhang können auch visuelle Umsetzungen von Musik gesehen werden, z. B. das Projekt „Chance und Experiment“10 oder die inszenierten Interpretationen von Instrumentalmusik im Rahmen der Studie The Creative Embodiment of Music (siehe Foto auf Seite 6: Improvisationsszene „Last Three Days“, 2003).11 Umsetzungen in dieser Form, welche die Instrumentalisten über die musikalischen Aktivitäten hinaus als Performer mit einbeziehen, profitieren in vieler Hinsicht von interdisziplinären Zusammenarbeiten, die auf improvisatorischen Arbeitsweisen basieren.12 Zu diesen Möglichkeiten zählt auch, den Schöpfungsprozess eines Werks auf die Bühne zu bringen, wie dies beispielsweise durch Improvisation geschehen kann.13
1 David Dolan: „Back to the future. Towards the revival of extemporization in classical music“, in: George Odam/ Nicholas Bannon: The reflective conservatoire. Studies in Music Edcuation, Aldershot 2005, S. 91-126, hier: S. 97.
2 ebd., S. 97 ff.
3 Noch zu Zeiten Johann Sebastian Bachs gehörte das spontane Erfinden von Musikstücken zum musikalischen Handwerkszeug. Ein zeitgenössisches Beispiel hierfür ist das Album Al improvviso (2004) von Christina Pluhars Ensemble L’Arpeggiata.
4 vgl. Jeff Pressing: „Improvisation: methods and models“, in: John Sloboda: Generative Processes of Music, Oxford 1988, S. 11.
5 Juniper Hill: „Imagining Creativity: An Ethnomusical Perspective on How Belief Systems Encourage or Inhibit Creative Activities in Music“, in: David Hargreaves: Musical Imaginations. Multidisciplinary Perspectives on Creativity, Performance and Perception, Oxford 2012, S. 87-104, hier: S. 101.
6 Vinko Globokar: „Der kreative Interpret“, in: Melos, 2/1976, S. 107.
7 Christopher Small: Musicking. The Meanings of Performing and Listening, Hanover 1998, S. 9.
8 www.youtube.com/watch?v=gK2l3q8I86M&index=47&list= PL1V40ukF6zUuCf5gLHef0QCqz_7gbvw9- (Stand: 26.10.2016).
9 www.youtube.com/watch?v=zWHLZ8sLTdA (Stand: 26.10.2016).
10 In diesem Projekt erhielten zehn junge KomponistInnen Kompositionsaufträge für Zwischenmusiken zu Schuberts Winterreise (Markus Fein: „Musikkurator und RegieKonzert“, in: Martin Tröndle: Das Konzert. Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form, Bielefeld 2009, S. 211-218, hier: S. 211). Diese Herangehensweise folgt in vieler Hinsicht Hans Kellers Methode der wortlosen, funktionalen Analyse (Hans Keller: Functional Analysis: The Unity of Contrasting Themes [1957-62], Bern 2001).
11 Sara Hubrich: The Creative Embodiment of Music – Practice-based investigations into staged and embodied interpretations of instrumental music, Birmingham City University 2015. Last Three Days gehört zu den im Rahmen der Forschung entstandenen und analysierten Produktionen; http://ethos.bl.uk/OrderDetails.do?did=1&uin= uk.bl.ethos.680195 (Stand: 20.9.2016).
12 vgl. John Sloboda: „What Do Musicians and Actors Learn by Working Together“, in: The Last Five Years, a Case Study, London 2011.
13 Eine detaillierte Übersicht über aktuelle Herangehensweisen und Strömungen in diesem Bereich findet sich bei Christa Brüstle: Konzert-Szenen. Bewegung, Performance, Medien. Musik zwischen performativer Expansion und medialer Integration 1950-2000, Bad Tölz 2014.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2016.