Friedel, Sabrina

Widerstand des Anderen

Warum Unterricht sich nicht planen lässt

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2015 , Seite 18

Eine gründliche Unterrichtsplanung hat etwas Beruhigendes, denn Struktur und Ordnung geben Halt. Doch da existiert etwas, was die Idylle stört: Es ist der Andere, der sich unserer Planung und Ordnung widersetzt, indem er den Unterricht unterbricht, die Mitarbeit verweigert oder durch Abwesenheit glänzt…

Das Kind mit Tobsuchtsanfall in der Streicherklasse und die unzuverlässige Solo-Flöte im Musikschulorchester sorgen regelmäßig dafür, dass unsere Planung „für die Katz“ war. Was bringt den Anderen immer wieder dazu, unsere Planung zu unterminieren? Warum macht er alles anders als die restliche Gruppe? Der französische Philosoph Emmanuel Levinas2 würde es vermutlich damit begründen, dass dieser Andere seine Singularität bewahren konnte. Er hat es geschafft, sich unserer Ordnung zu widersetzen, und konnte daher seine individuelle Fremdheit bewahren. Einige Gedanken Levinas’ werden uns zeigen, dass Unterrichtsplanung generell unsere SchülerInnen verfehlt.

Pädagogik als ­Überlistung

Finn weigert sich vehement, einen Kanon mit den anderen Kindern der Streicherklasse zu spielen. Stattdessen probiert er aus, wie man mittels starken Bogendrucks laute Kratz-Geräusche erzeugen kann. Die Lehrerin bittet ihn, dies zu unterlassen, weil es die Gruppe störe, und fordert ihn erneut auf, sich dem Kanon anzuschließen. – Hier treffen zwei unterschiedliche Positionen aufeinander. Die Lehrerin versucht, ihren Plan durchzuziehen, notfalls auch gegen Finns Willen. Levinas kritisiert in einer Passage aus Totalität und Unendlichkeit genau diese gängige Praxis: „Unsere pädagogische Rede ist Rhetorik, Rede aus der Position dessen, der seinen nächsten überlistet. […] Sie spricht den Anderen nicht von Angesicht zu Angesicht an, sondern von der Seite […] geht durch alle Tricks hindurch zum Anderen, fordert sein Ja.“3
Legitimiert durch unseren scheinbaren Wissensvorsprung wollen wir als LehrerInnen auch die Ordnung des Unterrichts bestimmen. Wir fordern Finns Beteiligung an unserem Unterricht und entwerten seine Experimente am Instrument, weil sie an dieser Stelle nicht in unsere Planung passen. Der Pädagoge Kersten Reich bezeichnet diese traditionell hierarchische Unterrichtsordnung als „inhaltliche Einbahnstraße“4 vom Lehrer zum Schüler.
Im Grunde bedeutet geplanter und gelungen umgesetzter Unterricht daher grundsätzlich die Überlistung des Schülers. Selbst bei scheinbar freien Phasen des Experimentierens im Unterricht hat er sich an unsere Spielregeln zu halten. Wenn aber Selbsttätigkeit auf das Recht der Selbstbestimmung verzichtet, dann werden die SchülerInnen überlistet. Durch geschickte Manipulation versuchen wir sie in eine Ordnung zu zwängen, sodass sie die von uns vorherbestimmten Ziele erreichen. Der Grad der gelungenen Umsetzung von Unterricht wird an der Erfüllung dieser Ziele gemessen. Ein Ausbrechen aus dieser Ordnung durch Störung oder Enttäuschung, aber auch durch positive Überraschung wird dagegen häufig nicht als gelungene Umsetzung interpretiert.
Damit diese Manipulation nicht so augenscheinlich ist, wird sie geschickt auf jeden abgestimmt. Wir erinnern uns an unseren Schüler, an seine Eigenschaften, Motivation, Leistungsstand und bestimmen dadurch die individuellen Ziele. Dabei erfassen wir aber niemals den Schüler in seiner Gesamtheit, sondern nur unsere Sichtweise von ihm. Seine tatsächliche Fremdheit überrascht uns im Unterricht, weil unsere Planung den echten Finn nicht berücksichtigen kann, sondern nur einen Menschen, der sich aus unserer Sicht so darstellt.
Durch Vergleiche mit weiteren SchülerInnen ordnen wir unseren Schüler unbewusst in eine Schublade ein. Dabei entwickeln wir eine Erwartungshaltung, in welchem Rahmen ­etwas zu erreichen ist. Aber verfehlt diese ­Diagnose nicht grundsätzlich den Schüler? Wenn Finn als Störenfried gebrandmarkt wurde, dann hat er kaum Möglichkeiten, dieser Kategorie zu entkommen. Selbst wenn er mich überrascht, indem er mir das Gegenteil von meinen Vorurteilen beweist, heißt das noch lange nicht, dass das meine Sicht ändert. Wie kann der Andere daher seine Fremdheit und Individualität bewahren?

1 Anstatt des Anderen kann selbstverständlich auch die Andere gemeint sein.
2 Emmanuel Levinas (1906-1995) studierte bei Edmund Husserl und Martin Heidegger und ist einer der bedeutendsten Philosophen Frankreichs. Vgl. Salomon Malka: Emmanuel Lévinas, München 2003.
3 Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit, Freiburg 32002, S. 94 f.
4 vgl. Kersten Reich: Systemisch-konstruktivistische Pädagogik, Weinheim 62010, S. 259.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2015.