Coole ElbStreicher © Christoph Maria Schwarz

Riedel, Gesa

Wie ein Roman

Erfolgreiche Zusammenarbeit von SchülerInnen und Profis im Rahmen eines Projekts der künstlerischen Musikvermittlung

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2023 , Seite 26

„Künstlerische Musikvermittlung ist eine Haltung und eine Methode, um sich als Musikschaffende mit künstlerischen Mitteln über die Noten hinaus in eine komplexe Welt einzubringen und sie dadurch mitzugestalten.“1 Vor ­diesem Hintergrund hat Gesa Riedel ein gemeinsames Konzert von Amateur- und ProfimusikerInnen in der Hamburger Elbphilharmonie ver­anstaltet. Sie beschreibt die Zusam­menarbeit verschiedener Institutio­nen des Musikbetriebs sowie die musikalische Arbeit der Ausführen­den, bestehend aus dem Kinder- und Jugendensemble Coole ElbStreicher, Studierenden der Hamburger Musik­hochschule sowie professionellen JazzmusikerInnen.

Für die Beschreibung des folgenden Projekts ist der Begriff der künstlerischen Musikvermittlung sehr passend. Dabei handelte es sich um ein Konzert zum Gedenken an den Jazzgeiger Helmut Zacharias (1920-2002) im Rahmen des Elbjazz-Festivals 2022 im großen Saal der Elbphilharmonie Hamburg. ­Unter der Projektleitung des Musikwissenschaftlers Andreas Jakubczik und mir war der Verein Mensch Musik des Kinder- und Jugend­ensembles Coole ElbStreicher Veranstalter dieses Events.
Das Besondere dieser Veranstaltung war das Zusammenwirken unterschiedlicher Institutionen und MusikerInnen, die als Community of Practice dieses Projekt gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Étienne Wenger und Jean Lave haben in 1990er Jahren den Begriff der Communities of Practice geprägt. Die Communities of Practice haben das Ziel, Innovationen gemeinsam auf den Weg zu bringen. Die Struktur und das soziale Gefüge der Communities of Practice sind auf eine kollektive Praxis ausgerichtet.2 Dieser Ansatz begleitete unser Projekt. Andreas Jakubczik war Initiator der Veranstaltung im Rahmen seines Forschungsprojekts über Helmut Zacharias an der Universität Hamburg.

Projektbeginn

Helmut Zacharias war schon als Elfjähriger mit einem Mozart-Violinkonzert im Radio zu hören. Seine Liebe indessen galt nicht der Klassik, sondern dem Swing-Jazz. Im Laufe seiner langen Karriere schrieb er über 400 Kompositionen, 1400 Arrangements und verkaufte 13 Millionen Schallplatten.3 Jakubczik wollte ein Gedenkkonzert für den „Zaubergeiger“ Zacharias veranstalten und nahm Kontakt zu mir als Leiterin der Coolen ElbStreicher auf. Ab 1948 lebte Zacharias in Hamburg, wo er unter anderem im Nordwestdeutschen Rundfunk musizierte und große Anerkennung in der Jazzwelt fand. Der Hamburger Konzertveranstalter Karsten Jahnke war aufgrund dieser Verbindung zur Stadt Hamburg schnell davon überzeugt, die Veranstaltung ins Hamburger Elbjazz-Festival zu integrieren. So wurde Jahnke ein Teil unseres Teams und organisierte den großen Saal der Elbphilharmonie.
Jakubczik akquirierte über unseren Verein Stiftungsgelder, die wiederum die Honorare der professionellen JazzmusikerInnen abdecken konnten. Die Bigband der Hamburger Musikhochschule unter der Leitung von Wolf Kerschek konnte ebenfalls für das Projekt gewonnen werden – denn was wäre der Swing-Jazz ohne den Sound einer Bigband? Neben etlichen Jazzgrößen der Hamburger und Berliner Musikszene kam auch der Schauspieler und Entertainer Ilja Richter zu unserer Community dazu. Richter kannte Zacharias und übernahm die Moderation sowie den Gesangspart im Abschlussstück des Konzerts.

Programmplanung

Jakbuczik hatte durch seine Forschung und Recherche in Bibliotheken Zugang zu Quellenmaterial, das auch für das Konzert verwendet werden konnte. Die Familie Zacha­rias unterstützte uns dabei. Eine Ausstellung, von Andreas Jakubczik kuratiert und organisiert, die zeitgleich zum Konzert in Hamburg stattfand, präsentierte zahlreiche Exponate: Noten, Fotos, Plattenhüllen, Artikel, Plakate, Briefe und Preisverleihungsdokumente.4 Unser Konzert sollte kein Revival-Konzert werden, vielmehr wollten wir die Musiktitel ganz neu interpretieren und die Veranstaltung als Begegnung von prominenten KünstlerInnen und NachwuchsmusikerInnen gestalten.
Im Folgenden beschreibe ich am Beispiel von Helmut Zacharias’ Komposition Wie ein Roman (1950) die Probenarbeit und musikalische Ausführung des Projekts. Von diesem Stück gab es eine Notenausgabe für Gesang und Klavier. Diese war allerdings nur noch in Archiven oder antiquarisch verfügbar. Für eine Bearbeitung musste der Verlag Boosey & Hawkes, der die Rechte an diesem Stück hat, kontaktiert werden. Für die Aufführung in der Elbphilharmonie wurde dankenswerterweise keine Lizenzgebühr gefordert. Das Einverständnis zur Bearbeitung erteilte auch die Familie Zacharias und so konnte Wolf Kerschek ein Arrangement erstellen für die Besetzung Gesang (Ilja Richter), Streichorchester (Coole ElbStreicher), Bigband (Bigband der Hamburger Musikhochschule), Klavier, Bass, Schlagzeug, Gitarre (Hamburger JazzmusikerInnen).

Erarbeitung

Zu Beginn mussten die vorhandenen Noten digitalisiert werden. Die Herausforderung für das Arrangement bestand darin, auch die Kinder und Jugendlichen mit ihren instrumentalen Möglichkeiten als vollwertige PartnerInnen zu integrieren. Ich fertigte daher eine Liste mit Angaben über mögliche Tonumfänge der einzelnen Stimmen an. Die Coolen ElbStreicher arbeiten seit Bestehen des Ensembles mit an ihrem Lernstand angepassten Notenmaterial und spielen dabei ausschließlich Arrangements. Um die Heterogenität des Kinder- und Jugendensembles ausreichend zu berücksichtigen und individuelle Förderung möglich zu machen, beinhalten die Partituren eine Vielzahl an Stimmen. Für die einzelnen Stimmen ist es wichtig, dass nur jene Lagen und Griffe verwendet werden, die sicher gespielt werden können. Außerdem müssen auch die rhythmischen Elemente dem Lernstand angepasst sein.
Kerschek musste für sein Arrangement zusätzlich zum an den Lernstand angepassten Notenmaterial die Sounds der unterschied­lichen Klangkörper berücksichtigen. Die Kinder- und Jugendlichen der Coolen ElbStreicher spielen zum Teil kleinere Instrumente oder Schülerinstrumente, die ein geringeres Klangvolumen haben. Hinzu kommt, dass eine Bigband im Vergleich zum Streichorchester sehr viel lauter klingt. Um den Gesangspart im Arrangement abzusprechen, trafen sich Kerschek und Richter vorab. In enger Abstimmung wurde ein stilgerechtes Arrangement erstellt.
Die Kinder und Jugendlichen mussten bestmöglich für dieses Projekt vorbereitet werden, um die Probenzeiten mit den ProfimusikerInnen überschaubar zu halten. Ich fertigte mit einem Notenschreibprogramm Audio­dateien in einem langsamen Übetempo und im Endtempo an. Das individuelle Üben jedes Einzelnen fand von Beginn an mit Musikdateien statt. Dies ermöglichte den Kindern und Jugendlichen des Ensembles, die Stimmen der anderen bereits im Voraus gut zu kennen. Wir trafen uns zu virtuellen Stimmproben über die Software Jamulus, da die Pandemie anhielt und das Konzert näher rückte. Zeitweise probten wir auch mit allen Coolen ElbStreichern über Jamulus.5
Kerschek fertigte in seinem Studio eine Demoaufnahme mit echten Bläsern und echter Gesangsstimme an. Das war ein großer Gewinn für den Übeprozess und bereitete zudem den SchülerInnen viel Spaß. Die Aufnahme konnten wir in die späteren Liveproben integrieren. Die Coolen ElbStreicher besitzen eine entsprechende Audiotechnik, die das Abspielen der Demoaufnahme in der nötigen Lautstärke möglich macht, sodass wir sozusagen mit Begleitung von Bigband, Gesang und ProfimusikerInnen üben konnten. Die Kinder und Jugendlichen waren damit auf gemeinsame Proben mit den Profis gut vorbereitet.
Um stilistisch den richtigen Sound zu finden, stellte Jakubczik Originalaufnahmen zur Verfügung. Wir lernten gemeinsam beim Hören, dass die Leichtigkeit des Swing-Jazz vor allem durch Betonungen zustande kommt. Durch das Fallenlassen von Tönen in schwingenden, inegalen rhythmischen Einheiten entsteht der typische Groove des Swing. Der Geiger Stefan Pintev, der das Konzert mitgestaltete, führte die Coolen ElbStreicher zusätzlich in Jazz-Spieltechniken ein.

Herausforderungen

In Wie ein Roman hatten die Kinder und Jugendlichen trotz des angepassten Notenmaterials rhythmische Hürden zu bewältigen. Es gab beispielsweise in den Violinen eine Septole als Auftakt, die mehrmals wiederkehrte. Diese übten wir gesprochen im Kollektiv, auch wenn Septolen in der eigenen Stimme nicht vorkamen. Sie waren grundsätzlich für Einsätze auf der nächsten Eins wichtig. Insofern war es für alle bereichernd, sie zu üben. Ich schloss ein Metronom an die Audioanlage an und die Aufgabe war, auf einen Schlag bis sieben zu zählen. Auf einer Zählzeit sieben Zahlen unterzubringen, war auch beim Sprechen ein virtuoser Vorgang. Später unterstützte das laute Sprechen parallel zum Spielen die Fingerkoordination der linken Hand. Gleich zu Beginn hatten die CellistInnen gemeinsam mit den BläserInnen parallel zur Septole eine Sextole zu spielen. Um sechs gegen sieben zu üben, bildeten wir zwei Sprechgruppen. Eine zählte bis sieben auf einen Schlag, die andere Gruppe bis sechs. Im Anschluss war das Spielen nicht sehr kompliziert.
Ein weiteres Element im gemeinsamen Übe­prozess stellte das Einstudieren der Gesangsstimme von Ilja Richter dar. Dabei erklärte ich, auf welchen Worten und Silben die Instrumente mit der Gesangsstimme zusammentreffen müssen. Wir übten dies wie Arien und Rezitative in einer Bachkantate. Diese Art des Begleitens implizierte, dass die Kinder und Jugendlichen mit der Musik automatisch den Text interpretierten. In der Gesangsstimme heißt es beispielsweise: „War’s ein guter Stern?“ Im Arrangement musste auf dem Wort „Stern“ ein sehr hohes Flageolett erklingen, das die Assoziation an einen Stern ermöglichte. Das Hören und Zuhören standen im Mittelpunkt der Probenarbeit. Ein Vorteil dabei war, dass die Ensemblemitglieder darauf trainiert sind, auswendig zu spielen, und sich so ohne Noten sehr gut auf diese musikalischen Parameter konzentrieren konnten.
Vor dem Konzert gab es eine Probe des ElbStreicher-Ensembles mit den Hamburger JazzmusikerInnen. In einer weiteren Probe kam die Bigband der Hamburger Musikhochschule unter der Leitung von Wolf Kerschek und mit Ilja Richter dazu. In dieser Gesamtprobe für Wie ein Roman konnte ein Auftrittsdurchlauf des ganzen Programms stattfinden, bevor das Konzert „Tribute to Helmut Zacharias’ Hamburg Years“ in der Elbphilharmonie aufgeführt wurde.

Fazit

Dieses Projekt zeigte uns: Teamarbeit zwischen allen beteiligten Institutionen und den Amateur- und ProfimusikerInnen funktionierte aufgrund flacher Hierarchien. Absprachen konnten direkt und schnell getroffen werden. Zudem ist bei der Umsetzung eines künstlerischen Musikvermittlungsprojekts ein angstfreies Arbeitsklima nötig. Grundlage hierfür ist die psychologische Sicherheit auch beim Musizieren. Das Konzept der psychologischen Sicherheit wurde 1999 durch Amy Edmondson6 etabliert und wird seitdem in unterschiedlichen wissenschaftlichen Forschungen, beispielsweise zu Innovationen und Diversität, aufgegriffen und bestätigt. Psychologische Sicherheit könnte auch ein musikpädagogischer Wegweiser in der künstlerischen Musikvermittlung werden.

1 Weber, Barbara Balba: Entfesselte Klassik. Grenzen öffnen mit künstlerischer Musikvermittlung, Bern 2018, S. 13.
2 Wenger, Étienne: Communities of practice. Learning, meaning, and identities, Cambridge 2008, S. 241-262.
3 https://helmut-zacharias.de (Stand: 1.3.2023).
4 ebd.
5 siehe Riedel, Gesa: „Gemeinsam musizieren über Dis­tanz. Die Open-Source-Software ,Jamulus‘ ermöglicht Echtzeitproben im virtuellen Raum“, in: üben & musizieren, 6, 2021, S. 42-44, https://uebenundmusizieren.de/ artikel/gemeinsam-musizieren-ueber-distanz (Stand: 22.6.2023).
6 Edmondson, Amy C.: „Psychological Safety and Learning Behavior in Work Teams“, in: Administrative Science Quarterly, Cornell University, 44/2, 1999, S. 350-383.

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