Ortheil, Hanns-Josef

Wie ich Klavierspielen lernte

Roman meiner Lehrjahre

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Insel, Berlin 2019
erschienen in: üben & musizieren 1/2020 , Seite 61

Bereits in seinem biografischen Roman Die Erfindung des Lebens (2009) hatte Hanns-Josef Ortheil ausführlich über sein intensives Klavierspiel als Kind und Jugendlicher geschrieben. In seinem neuen Buch konzentriert er sich ganz auf den langen Weg, den er mit „seinem“ Instrument von den Anfangsgründen bis zur pianistischen Meisterschaft und deren plötzlichem krankheitsbedingten Ende zurücklegte.
Dieser Weg beginnt in einer Sym­biose mit der geliebten Mutter, die gut Klavier spielte und seine erste Lehrerin wurde. Durch den traumatischen Verlust vierer ihrer Söhne lange Jahre stumm geworden, blieb auch der Erzähler als Kind jahrelang sprachlos. Im Spielen und Improvisieren am Klavier fand er nach und nach ein Medium, das ihm ermöglichte, seine Verschlossenheit zu überwinden, seine inneren Regungen auszudrücken und zu gestalten und schließlich auch die Zunge zu lösen.
Eingehend schildert Ortheil die Stunden bei seiner Mutter, ihre Resonanz auf sein Üben, sein allein für sich praktiziertes, Geräusche nachahmendes und aus ­ihnen musikalische Verläufe entwickelndes Improvisieren, wie auch die dezente, mehr aus der Ferne spürbare Anteilnahme des Vaters. Neue Erfahrungen, Lerngewinne und Perspektiven ergeben sich für den begabten und zunehmend ehrgeizigen Jungen durch vier nacheinander gewählte Lehrerinnen und Lehrer, die ihn mit ihren spezifischen Konzepten eine Weile voranbringen, dann aber auch beengen, was zu Wechseln und Neuorientierungen führt.
Viele prägende Einwirkungen auf dem frühzeitig eingeschlagenen Weg zu einer Karriere als Konzertpianist kommen ausführlich zur Sprache: vielstündiges tägliches Üben, die Vorbilder großer Pianisten, eine kurze Begegnung mit Glenn Gould auf einem Spaziergang in Salzburg, intensive Beschäftigungen mit Harmonielehre, Kontrapunkt, Literatur über Musik, Konzerte von besonderer Leuchtkraft, schmerzhafte wie motivierende Erfahrungen der eigenen Begrenztheit durch Erlebnisse pianistisch weiter fortgeschrittener Gleichaltriger, eine bedeutungsvolle Freundschaft mit einem von ihnen, die ambitionierte Erweiterung des Repertoires um die „großen Brocken“ (wie es im Buch heißt) der Klavierliteratur, eine schwierige Zeit in einem Musikinternat, eine euphorische Lebensphase als Liszt-Stipen­diat am Conservatorio in Rom.
Ortheil erzählt spannend und fügt in seine Erinnerungen immer wieder (im Schriftbild abgesetzte) Passagen ein, in denen er das Erzählte von der Warte des gegenwärtigen Schreibens reflektiert.
Ortheils Buch bietet ein reichhaltiges und aufschlussreiches Material zu vielen musikpädagogisch relevanten Faktoren: zur musikalischen Sozialisation und Personalisation, zur Identifikation mit Musik, zum Erlernen eines Instruments, zur Entstehung von Motivationen – und auch zum Scheitern von hochfliegenden Plänen.
Ulrich Mahlert