© Johannes Göring

Schirmer, Felix

Wie wird ein Chor intelligent?

Musikalisch-kommunikative Prozesse in der Methode „The Intelligent Choir“

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2019 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

Die momentan noch spärlich bestückte Homepage der Methode „The Intelligent Choir“ verspricht, dass sich bei konsequenter Anwendung nicht nur Rhythmus und Groove eines Chores verbessert, sondern auch das Gefühl der Mitglieder in Bezug auf ihre Mitverantwortung für den musikalischen Prozess, die Inter­aktion und Kreativität im Chor sowie die Reflexionsfähigkeit des Chores.1

Der Erfinder der Methode „The Intelligent Choir“ (TIC), Jim Daus Hjernøe (Det Jyske Musikkonservatorium Aarhus/Aalborg), sagt: „Ein intelligenter Chor ist das Gegenteil von einem unvorbereiteten und unreflektierten Chor.“ Wichtig ist die Feststellung, dass es nicht um „gute“ oder „schlechte“ Chöre geht. Eine solche Zuweisung kann sich auch die Chorleitung in TIC nicht erlauben, da sie gleichberechtigter Teil des Chores ist. Ihre Aufgabe besteht darin, den Chor vorzubereiten und in die Lage zu versetzen, die eigene Arbeit reflektieren zu können. „The Intelligent Choir“ ist als sich derzeit noch stetig weiterentwickelnde Methode ein Vorschlag, um das volle Potenzial einer Gruppe durch Verteilung der Verantwortung für den musikalischen Prozess auf alle Beteiligten nutzbar zu machen. Sie gliedert dafür die Arbeit in drei pädagogische Handlungsfelder, in denen ein Kompetenzaufbau erfolgen soll:2
– Implementierung von Vocal Painting
– Schulung der musikalischen Kompetenzen des Chores, aufgeteilt in die fünf Fokusbereiche Timing & Groove, Tonhöhe & Intonation, Klang & Blending, Interpretation & Ausdruck sowie Performance & Kon­zertdesign
– Erweiterung der Comfort Zone des Cho­res, Befreiung der Stimme, des Körper und der Seele.
Die Singenden sollen aus- bzw. weitergebildet werden, damit sie in der Lage sind, Verantwortung für den musikalischen Prozess zu übernehmen.
Die Grundidee hinter dem musikalisch-kommunikativen Prozess, der in TIC stattfindet, wurde bereits von Svend Rastrup Andersen und Niels Græsholm in den 1990er Jahren beschrieben. Nach ihrem Verständnis nimmt die musikalische Qualität zu, wenn die Chormitglieder entdecken, dass sie einen großen Einfluss auf die Musik haben, und die Chorleitung versteht, dass sie nicht immer unentbehrlich ist.3 TIC setzt neben anderen Gedankengängen vor allem diese Idee methodisch um. Ebenso wie bei einer „traditionellen“ Chorprobe unterliegt aber auch das Vorgehen in TIC gewissen kommunikativen Regeln und Vereinbarungen, denn es geht nicht darum, eine Probe durch die Übertragung der Verantwortung auf die Singen­den in Beliebigkeit ausarten zu lassen. Seinen Ausdruck findet diese Herangehensweise in der gemeinsamen Improvisation mit Hilfe von Vocal Painting.

Implementierung von Vocal Painting

Bei Vocal Painting handelt es sich um eine Art Zeichensprache, mit der der musikalische Prozess innerhalb einer Improvisation mittels (momentan etwas über 80) Handgesten beeinflusst werden kann. Vocal Painting basiert zum einen methodisch auf Walter Thompsons Soundpainting4 und zum anderen klangästhetisch und musikalisch auf dem Circle Singing,5 wie es von Künstlern wie Bobby McFerrin, Rhiannon oder Joey Blake praktiziert wird. Das bedeutet konkret, dass im Unterschied zur sehr freien Herangehensweise im Soundpainting die Grundlage der Improvisation in der Regel tonal gebundene, repetitive Formen verschiedener Länge sind.
Vom Soundpainting unterscheidet sich Vocal Painting insbesondere in der wesentlich kleineren Anzahl von möglichen Handgesten und zum Teil in der größeren Ungleichzeitigkeit zwischen Geste und musikalischer Ausführung der Anweisung. Besonders im Kontext jener Handgesten, bei denen von den Singenden zum Beispiel ein neuer Loop oder eine Harmonisierung eines bestehenden Loops verlangt wird, dürfen diese sich Zeit nehmen, um für sich zu evaluieren, was jetzt die Musik am besten voranbringen würde.
Genau darin liegt auch der größte Unterschied zum Circle Singing: Die musikalischen Ideen kommen nicht nur von einem Kopf, sondern können aus der gesamten Gruppe kommen, aber eben in einem geordneten Rahmen. Dem Dirigenten oder „Creator“ obliegt es, das musikalische Gespräch zu steuern, die Singenden zu inspirieren und sich von diesen inspirieren zu lassen. Das gemeinsame Ziel der ganzen Gruppe ist das bestmögliche Funktionieren der Musik. So ist die Hierarchie zwischen Chorleitung und Chor in TIC wesentlich flacher bis hin zu dem Szenario, dass je nach Erfahrungsstand der Gruppe die Leitung auch in einer laufenden Improvisation beliebig zwischen allen Mitgliedern gewechselt werden kann.
Um diesen musikalisch-kommunikativen Prozess zu ermöglichen, ist ein entsprechendes Mindset, also eine hinreichend offene, wertschätzende und nicht-kompetitive Einstellung zum gemeinsamen Musikmachen erforderlich. Der Chor kann nicht mehr nur das Instrument der Chorleitung sein, sondern beide sind gleichberechtigte Partner beim Musikmachen. Das erfordert selbstverständlich, dass die dafür notwendi­gen Kompetenzen vermittelt werden und der Chor bereit ist, sich diese Kompetenzen zu eigen zu machen und anzuwenden.

Schulung der musikalischen Kompetenzen des Chores

Zur Schulung der musikalischen Kompetenzen eines Chores schlägt TIC vor, die Arbeit in fünf verschiedene Bereiche zu unterteilen und sich diesen je nach Bedarf einzeln zu widmen. Dabei bedient sich TIC bereits existierender Methoden wie etwa der relativen Solmisation. Auch hier ist das erwähnte Mindset von Bedeutung: Chorleitung und Chor sind gleichberechtigte Partner oder sollen es werden.
– Im Bereich Timing & Groove hat sich ei­ne eigene Rhythmussprache durchgesetzt, bei der Viertelnoten und deren Unterteilungen mit einem Namen versehen werden. So sprechen sich die Viertel „di di“, die Achtel „di-da-di-da“ und die Sechzehntel „digidagadigidaga“. Diese Sprache kann natürlich ergänzt werden, um z. B. triolische Rhythmen abzubilden. Sie wird ähnlich wie die Solmisation mit Handzeichen verknüpft, mit denen dann – auch in Kleingruppen – vergleichbar gearbeitet werden kann. So kann der Notentext direkt in Rhythmussprache „übersetzt“ werden, sodass rhythmische Strukturen einheitlich benannt und in Relation zum Met­rum verstanden werden können.6
– Für den Bereich Tonhöhe & Intonation dient die relative Solmisation als gemeinsame, schnell umsetzbare und erlebbare Sprache, die diatonischen Zusammenhängen einen Namen gibt. Die Methode ermöglicht, dass ein Chor ein Verständnis dafür entwickelt, dass eine Chorstimme immer auch im harmonischen Kontext gesehen werden muss und was dieser Kontext ist. Sie lässt sich in der Form anwenden, dass der Chor der Anleitung durch die Chorleitung folgt oder dass Chormitglieder sich in Kleingruppen gegenseitig anleiten – natürlich mit einer entsprechend angepassten und leistbaren Aufgabenstellung. Ab einem bestimmten Punkt ist der Transfer aus der Solmisation auf ein Stück sehr schnell machbar.
Ein gewollter Nebeneffekt der Solmisation ist, dass die Sängerinnen und Sänger völlig anders aktiviert werden, wenn sie zum Beispiel eine neue Stimme nicht einfach nur vom Klavier nachsingen, sondern sich diese mit angemessener Hilfestellung aus ihrem eigenen diatonischen Verständnis heraus selbst erschließen. Dafür müssen seitens der Chorleitung Raum und Zeit gegeben werden, um das eigene Wissen zur Bewältigung der Herausforderung zu aktivieren.
– Im Bereich Klang & Blending, der eng mit stimmbildnerischen Fragen zusammenhängt, erscheint es naheliegend, ebenfalls einen Ansatz zu wählen, der es den Chormitgliedern ermöglicht, ein Verständnis für das eigene „Instrument“ und dessen „Spieltechniken“ zu erlangen. Innerhalb des immer noch im Aufbau befindlichen Systems TIC hat sich hier bislang noch kein Werkzeug durchgesetzt, was auch in der großen Komplexität des Themas und den didaktisch besonderen Anforderungen an chorische Stimmbildung begründet liegen mag. Auch hier sollte das Ziel sein, den Sängerinnen und Sängern Raum, Zeit und Inspiration sowie Hilfestellung zur Entwicklung des eigenen Klangs zu geben und nicht allein einen vordefinierten Klang einzufordern.
– Ähnlich verhält es sich mit den Themen Interpretation & Ausdruck sowie Performance & Konzertdesign. Konsequenterweise müssten auch diese Bereiche im Kern beeinflusst sein von der gegenseitigen Ins­piration von Chor und Chorleitung. Es stellt sich also die Frage, wie man im Chor ein gemeinsames Bewusstsein für die Interpretation eines Stücks schaffen kann.
Eine Herangehensweise könnte sein, über eine inhaltliche Erschließung des Materials dieses Bewusstsein zu schaffen. Speziell im Bereich Concert Design sind der Dutch Organic Choir7 aus den Niederlanden, Perpetuum Jazzile8 aus Slowenien und Dopplers9 aus Dänemark als Referenz­ensembles mit jeweils eigenen Herangehensweisen zu nennen. Außerdem hat sich die dänische Dirigentin Astrid Vang-Pedersen im Rahmen einer Dissertation intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt.10 Sie schlägt vor, das Thema Konzertdesign als einen zirkulären Prozess aufzufassen, der von Anfang an mit in die Probenarbeit eingebettet wird und bei dem die Gruppe Zwischenstadien regelmäßig zusammen evaluiert, bis schließlich das finale Design entsteht.

Befreiung der Stimme, des Körpers und der Seele

Inspiration kommt nicht von selbst und sie lässt sich schon gar nicht forcieren. Aber es können günstige Bedingungen geschaffen werden, um inspirierende Momente wahrscheinlicher zu machen. Bei der Methode „The Intelligent Choir“ spielt das aus dem Swahili stammende Wort „kucheza“ (wörtlich übersetzt: „spielen“) eine große Rolle. Das Verb wird ebenfalls verwendet, um die Tätigkeiten Musizieren und Tanzen zu beschreiben, und dient so gewissermaßen als Leitbegriff einer Philosophie des Musikmachens.
Die Inspiration dafür stammt von einer Musikschule in Aarhus, die seit 30 Jahren nach diesem Verständnis arbeitet. Dort wird Musik im engen Zusammenhang zu Tanz und Spiel verstanden und soll ganz selbstverständlich als Teil von Gesellschaft erlebt werden, ohne dass von vornherein nur mit dem Zweck musiziert wird, ein bestimmtes Ziel, z. B. eine Aufführung, zu erreichen. Eine wichtige Vorstellung lautet: „Ich bin Musik!“11
Übertragen auf die chorische Arbeit bedeutet das, dass in jeder Musik etwas zum Leben erweckt werden soll, das mehr ist als Töne, und dass jeder Mensch eine eigene, aus den individuellen Lebenserfahrungen genährte Musik in sich trägt. Auch hier sind wieder Chorleitung und Chor gefragt – denn nur eine Seite allein kann diese große Quelle an Inspiration nicht hör- und erlebbar machen.
Methodisch kann das bedeuten, Probeneinheiten zum Beispiel mit einem kurzen „Icebreaker“ anfangen zu lassen, welcher spielerisch zum Musikmachen führt, oder, wenn die Energie eines Stücks das hergibt, zu diesem mit dem Chor zu tanzen, eventuell auch beim Singen, womit man unter Umständen bereits den Bereich des Concert Design berührt. Auch wenn das Stück eine völlig andere Energie hat und zum Beispiel sehr ruhig ist, kann nach dem Bild oder der Vorstellung gesucht werden, wodurch es zum Leben erweckt wird. Diese Vorstellung wird aber nicht unbedingt mit dem Ziel aktiviert, dass klanglich etwas Vorgegebenes passieren soll, sondern damit jeder den Gedanken „Ich bin Musik!“ im Sinne des Bildes aktivieren kann. Wenn es dann in den Bereich der Improvisation geht, spielt diese Inspiration natürlich eine noch größere Rolle. So kann Musik viel mehr ein Erlebnis für alle Beteiligten – Ausführende wie Zuhörende – werden, als wenn die entscheidenden Kategorien lediglich „richtig“ oder „falsch“ hießen.

Wie lässt sich die Methode weiterdenken?

Auch wenn „The Intelligent Choir“, wie es ja schon im Namen steckt, sich an Chöre richtet, können die Gedankengänge über das Zusammenwirken von Musizierenden in einer Gruppe auf jedes Ensemble übertragen werden. Die Inspiration sollte bei InstrumentalistInnen ebenso bedeutsam sein, gerade wenn sie improvisieren. Vocal Painting als Zeichensprache beinhaltet viele Gesten, die genauso gut instrumental umsetzbar sind, und letzten Endes profitiert jede Gruppe davon, wenn man die Musikalität der Mitmusizierenden anerkennt und wertschätzt, egal wie fortgeschritten man ist. Denn erst dadurch wird das volle Potential eines Ensembles ausgeschöpft.
TIC kann auch im Kontext aktueller Diskussionen um das Thema künstlerische Forschung betrachtet werden, in denen es unter anderem darum geht, Prozesse beim Musikmachen und beim Erschließen von Musik beschreibbar zu machen. Dabei entsteht letztlich auch relevantes Wissen für die Vermittlung von Musik. Der Percussionist und Pädagoge Max Gaertner regt zum Beispiel dazu an, den Prozess des Musizierens in die Bereiche Analyse, Übeprozess, Vortrag und Performance zu unterteilen, wobei jeder dieser Bereiche wieder in noch kleinere Schritte unterteilt werden kann.12 Auch TIC versucht, durch die Gliederung des musikalischen Prozesses den Vermittlungsprozess durchsichtiger und greifbarer zu machen.
Letztlich reihen sich Chorleiterinnen und Chorleiter mit der Methode „The Intelligent Choir“ ein in einen schon länger bestehenden Diskurs: „Die Lehrerrolle verändert sich, wenn Lehrer in Zukunft stärker als bisher professionelle Begleiter von Lernprozessen sind. Lehrer müssen in die Lage versetzt werden, eigenständige Lernprozesse der Lernenden zu provozieren und diese zu begleiten. […] Ein gleichberechtigtes, respektvolleres Lernklima wird produziert, wenn Lehrer als ebenfalls weiterhin Lernende, Kinder und Jugendliche als bereits Wissende und Kompetente angesehen werden.“13

1 The Intelligent Choir – Concept, https://theintelligentchoir.com/concept (Stand: 16.8.2019).
2 ebd.
3 Svend Rastrup Andersen/Niels Græsholm: Slå Ørerne Ud! – Idéhæfte, Egtved 1993, S. 3.
4 Soundpainting ist ein schon länger existierendes System, durch das mit Hilfe von über 1000 Hand­gesten komplexe Improvisationen angeleitet werden. Es gibt inzwischen Gesten, die sich an InstrumentalistInnen, SängerInnen, TänzerInnen und sogar bildende KünstlerInnen richten, die in einer Performance gemeinsam live Improvisieren. Die Musik ist dabei oft nicht tonal oder metrisch gebunden; vgl. z. B. Walter Thompson: Soundpainting: the art of live composition. Workbook I, New York 2006.
5 Beim Circle Singing wird Musik, die meistens auf kurzen Loops basiert, über ein Call-Call-System mit einer Gruppe einstudiert. Dabei gibt es in der Regel eine Person in einer Art Leitungsfunktion, die festlegt, welches Motiv gesungen und wie es harmonisiert wird. Häufig ergänzt diese Person die Performance selbst durch ein freies Solo. Die Musik ist dabei in der Regel tonal und metrisch gebunden.
6 vgl. Guido Krawinkel/Nora Friedel: „Alles ist Rhythmus. Methodische Ansätze von Bodypercussion bis Rhythmussprache im Überblick“, in: Chorzeit. Das Vokalmagazin 6/2019, S. 16 f.
7 www.dutchorganicchoir.nl/en/welcome (Stand: 12.9.2019).
8 http://perpetuumjazzile.si/de (Stand:12.9.2019).
9 www.dopplers.dk (Stand:12.9.2019).
10 www.concertdesign.dk (Stand:12.9.2019).
11 vgl. Kurt Baagø: „Kucheza er en rede, hvor børn kan opdage og pleje deres musikalske talent”, in: Basunen 1/2017, S. 14-16.
12 Max Gaertner: „Die eigene musikalische (Klang-) Forschung – Das Wissen um die Kunst“, Workshop anlässlich der Summer School des Netzwerks Mu­sikhochschulen, unveröffentlichtes Manuskript, Detmold 2019.
13 Beatrice Hungerland/Bernd Overwien: „Kompetenzerwerb außerhalb etablierter Lernstrukturen“, in: dies. (Hg.): Kompetenzentwicklung im Wandel. Auf dem Weg zu einer informellen Lernkultur?, Wiesbaden 2004, S. 13.