Doerne, Andreas

Wir brauchen eine Revolution!

Zur Zukunft von Musikschulen in einer „Bildungsrepublik Deutschland“

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2011 , Seite 12

Musikschulen müssen sich von Unterrichtsstätten hin zu musikalischen Lern­häusern entwickeln, die eine inspirierende künstlerische Umwelt mit vielfältigen, individuellen und sozialen Lernmöglichkeiten rund um das Musizieren verknüpfen. Verschiedenes muss sich dafür grundlegend ändern: angefangen beim Selbstverständnis der Institu­tion Musikschule über die inhaltliche und methodische Ausrichtung des Musizier­unterrichts, die Rolle der Lehrenden, das Lernverhalten der Schüler, die organisa­torische Gestal­tung des Musikschultags bis hin zur Architektur der Musikschul­gebäude.

Sowohl Reformschulen im deutschsprachigen Raum1 als auch das staatliche Schulwesen Finnlands, das in internationalen Vergleichsstudien wie PISA immer wieder Spitzenpositionen belegt, räumen systemisch-konstruktivistischen Lernansätzen einen hohen Stellenwert in ihrer pädagogischen Arbeit ein und setzen beim Lernen der Schüler und Schülerinnen sowohl auf ein hohes Maß an Individualisierung als auch auf eine ausgeprägte Kultur sozialer Interaktion.2 Das Verständnis von Wissen und Können nicht als vom Lehrer zum Schüler identisch transferierbares Gut, sondern als aktive, individuelle und immer neue Konstruktionsleistung jedes Individuums hat dort eine grundlegende Veränderung der pädagogischen Praxis bewirkt.3 Ebenso hat die Hirnforschung in den vergangenen Jahren Erkenntnisse in Bezug auf das Lernen hervorgebracht, die neue Wege im Umgang mit Lernprozessen nahe legen.4 Die Instrumental- und Vokalpädagogik (im Folgenden mit dem in meinen Augen treffenderen Begriff Musizierpädagogik bezeichnet) hat bisher auf diese Entwicklungen kaum reagiert – vermutlich weil der Großteil der Forschung mit der Lehr- und Lernsitua­tion an allgemein bildenden Schulen befasst ist und scheinbar wenig mit den spezifischen Anforderungen des Musizierunterrichts zu tun hat.5
Ernstlich verwundert ob dieses geringen Interesses muss man angesichts der Tatsache sein, dass der von außen auferlegte, momentan auf den Musikschulen lastende Veränderungsdruck größer nicht sein könnte. Anstatt sich jedoch durch kulturpolitisch motivierte Größenwahn-Projekte wie JeKi oder die zunehmende Umwandlung von Halbtags- in Ganztagsschulen zu „Reformen“ treiben zu lassen, die eigentlich nur strukturelle Änderungen sind und keinen spürbaren Qualitätszuwachs mit sich bringen, sollten Musikschulen das Heft des Handelns in Bezug auf eine anstehende Erneuerung selbst in die Hand nehmen, sich auf ihren Kernauftrag besinnen – die Ermöglichung von musikalischer Bildung am Instrument für alle Interessierten – und aus sich heraus neue Formen von Musikschularbeit entwickeln. Was liegt da näher, als massiv in die Offensive zu gehen, nach neuen Lehr-, Lern- und Bildungskonzepten Ausschau zu halten und diese in angepasster Form auf die Musikschularbeit zu übertragen?6

Zukunftsvision von Musikschule

Ich möchte diesem notwendigerweise anstehenden Veränderungsprozess ein wenig vo­rausgreifen und in diesem Artikel eine Zukunftsvision entwerfen, die Vision einer radikal anderen Musikschule. Dabei ist meine Ausgangsperspektive eine selbstbezogene, durch und durch eigennützige: Wäre ich heute nicht an einer Musikhochschule tätig, in was für einer Musikschule würde ich gerne mein Berufsleben als Musizierpädagoge verbringen? Hier der Versuch einer Antwort.7

1 Beispielsweise die Helene-Lange-Schule Wiesbaden, die Montessori-Oberschule Potsdam, das SBW Haus des Lernens in Romanshorn/Schweiz, die Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen oder die mit dem diesjährigen deutschen Schulpreis ausgezeichnete Georg-Christoph-Lichtenberg-Gesamtschule Göttingen.
2 Aila-Leena Matthies/Ehrenhard Skiera (Hg.): Das ­Bildungswesen in Finnland, Bad Heilbrunn 2009, u. a.
S. 110-116 und S. 193-214. Vgl. auch die Ausführungen zu den Grundsätzen finnischer Schulpädagogik des Finnish National Board of Education: „The organisation of schoolwork and education is based on a conception of learning that focuses on students’ activity and interac­tion with the teacher, other students and the learning environment.“ (www.oph.fi/english/education sowie www.oph.fi/english/sources_of_information/pisa, 8.3.2011).
3 Der Schulpädagoge Reinhard Voß benennt in seinem Buch Unterricht aus konstruktivistischer Sicht, Weinheim 22005 auf S. 8 drei traditionelle didaktische Mythen: „der Lehrer als Alles- und Besserwisser, Lehren macht Lernen, das Verständnis von Wissenstransformation“.
4 Zwei neue Publikationen aus diesem Bereich sind: Manfred Spitzer: Medizin für die Bildung. Ein Weg aus der Krise, Heidelberg 2010; Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt, Stuttgart 2011; und ein als Überblick über das Forschungsfeld zwischen Neurobiologie und Pädagogik geeignetes Kompendium: Ulrich Herrmann (Hg.): Neurodidaktik. Grundlagen und Vorschläge für gehirngerechtes Lernen, Weinheim 22009.
5 Ich meine hier sowohl die akademische Musizierpäda­gogik an den Hochschulen als auch die musizierpädagogische Praxis an Musikschulen. Vereinzelt gibt es zwar vielversprechende Ansätze, jedoch ist die Resonanz in der Fläche meistens gering.
6 Zwei Ansätze der jüngeren Vergangenheit, die genau dies tun, stammen von Gerhard Wolters (Wege aus der Eintönigkeit. MultiDimensionaler InstrumentalUnterricht, Frankfurt am Main 1999 sowie sein Konzept einer Tagesmusikschule, www.tagesmusikschule.ch) und Michael Stecher (Probenpädagogik, Eschbach 2001).
7 Viele der im Folgenden angeführten Gedanken sind weder neu noch stammen sie originär von mir. Ich habe sie lediglich zusammengeführt. Wesentliche Einflüsse entstammen den Schriften von Volker Biesenbender, Anselm Ernst, Erich Fromm, Martin Gellrich, Hartmut von Hentig, Gerald Hüther, Heinrich Jacoby, Reinhard Kahl, Remo H. Largo, Ulrich Mahlert, Loris Malaguzzi, Christoph Richter, Peter Röbke, Wolfgang Rüdiger, Peter Sloterdijk, Michael Stecher, Christian Winkler und Gerhard Wolters.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2011.