Richter, Winfried

Wir dürfen keine Musikalisierungs­verlierer produzieren

Gedankenaustausch mit Volker Gerland und Ulrich Rademacher zur aktuellen Situation von Musikalisierungsprogrammen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2012 , Seite 26

Als Musikalisierungsprogramme haben JeKi oder JEKISS in Deutsch­land großes Aufsehen erregt. Nord­rhein-Westfalen war dabei eine Art Keimzelle für Nachfolger in anderen Bundesländern. Ein Gespräch mit Volker Gerland und Ulrich Rade­macher bot Gelegenheit, die aktuelle Situation dieser Programme zu erörtern. Den Gedankenaustausch moderierte Winfried Richter, dem es als Bundesvorsitzender des VdM darum geht, die Licht- und Schattenseiten abzuwägen.

Winfried Richter: Ist Nordrhein-Westfalen für die Schülerinnen und Schüler von Grundschulen, aber auch für die Musikschullehrerinnen und -lehrer eine musikalische Insel der Glückseligkeit?
Volker Gerland: Ich bin froh, dass es nach Jahren der Stagnation und des Kaputtsparens endlich wieder eine Lobby und damit Auftrieb für die musikalische Bildung junger Menschen gibt. JeKi und JEKISS zeigen, dass es in der Bündelung von Kräften und Kompetenzen gute Chancen gibt, Musizieren und damit das Kulturgut Musik für die nachfolgenden Generationen zu stärken. Glückseligkeit? Wir dürfen bei aller Freude nicht übersehen, dass derartige Programme auch ein Reflex auf eine insgesamt unbefriedigende Ausgangslage sind. In der Ausbildung der Erzieherinnen kommt Musik viel zu kurz, in den Grundschulen fehlen jetzt und wohl leider auch in Zukunft die Musiklehrer. Die Zeitfenster der Vorschulkinder für den Besuch der Musikschule werden kleiner. Die weit überwiegende Zahl der Elternhäuser verfügt nicht über den Weitblick oder die Fähigkeit, die Kinder selbst musikalisch zu fördern. Wir brauchen neue Ideen und Strategien, damit sich diese Ausgangslage ändert, sonst wird auch die Musikschularbeit schnell den Boden unter den Füßen verlieren. Wenn wir uns nur für die Kinder zuständig fühlen würden, bei denen schon vom Elternhaus her Interesse und Unterstützung vorhanden sind, würden die öffentlichen Musikschulen in der derzeitigen Form nicht überleben.
Winfried Richter: Andererseits zeigt sich im Vergleich der Bundesländer, dass der Anteil der Bevölkerung, der öffentliche Musikschulen nutzt, in Ländern ohne JeKi-Programme keinesfalls geringer ausfällt. Offensichtlich wissen die Menschen, wie effektiv der Instrumental- und Gesangsunterricht in der Verbindung mit Ensemblespiel und Ergänzungs­fächern an öffentlichen Musikschulen ist. Hier wird eine umfassende musikalische Bildung vermittelt, die eine notwendige Basis für die Teilhabe an unserer Musikkultur darstellt. Richtig ist natürlich, dass wir diese Möglichkeit mit Maßnahmen wie JeKi ins Bewusstsein auch derjenigen rücken, die sonst vielleicht keinen Zugang zum aktiven Musizieren finden.
Ulrich Rademacher: Musikalisierungsprogramme wie JeKi und JEKISS können Kindern, die sonst keine Chance hätten, jemals die wunderbare Welt der Musik zu entdecken, einen Weg dorthin eröffnen. Sie erreichen Kinder zudem in einem Alter, wo Geschmack, Vorlieben, auch Sensibilität entwickelt werden. Singen sollte erst einmal so selbstverständlich sein und gut tun wie Essen, Trinken, Schlafen, Bewegen und die Liebe der Eltern. Singen sollte so selbstverständlich eingeübt werden wie gesunde Ernährung, Sprache und der aufrechte Gang. Verpflichtung aber ist ein Feind der Kunst – daher: Nicht jedes Kind muss ein Instrument erlernen, sondern jedes Kind sollte eine Chance haben, ein Instrument spielen zu dürfen!
Winfried Richter: Dazu bedarf es selbstverständlich als Wegbereiter qualifizierter Lehrkräfte und verlässlicher Strukturen, die die öffentliche Musikschule vorhält. Dennoch gibt es z. B. im Stadtstaat Hamburg eine Entkoppelung von der staatlichen Musikschule. Dort bestellt mittlerweile die Schulbehörde die JeKi-Lehrer, was doch Fragen nach der Solidität der Maßnahme aufwirft. Gibt es an den Musikschulen nicht ausreichend Pädagogen, die sich dem speziellen Aufgabengebiet stellen?
Volker Gerland: Ich möchte betonen, dass ich nur für JeKi im Ruhrgebiet sprechen kann. Das ist wichtig, weil es ja inzwischen beinahe im ganzen Bundesgebiet gleichlautende Projekte gibt, deren Arbeitsbedingungen ich nicht kenne. Den Lehrkräften wird eine Menge abverlangt. Das gilt vor allem für die Anfangsphase, als wegen des Zeitdrucks durch das Jahr der Kulturhauptstadt ohne ausreichende Vorbereitung und Fortbildung Neuland betreten werden musste. Inzwischen sind viele wichtige Problemfelder durch Fortbildungen abgedeckt. Aber es bleibt eine große und zum Teil neue Herausforderung. Die größere Heterogenität und die notwendige Verknüpfung mit den Grundschulen verursachen eine Vielzahl von Problemstellungen, die zum Teil ungewohnte Arbeitsaufwände nach sich ziehen.
Nach mehr als vier Jahren Erfahrung ziehe ich aber als Musikschulleiter eher eine positive Bilanz. Die meisten beteiligten Musikschullehrkräfte haben es mit ihrer pädagogischen Professionalität verstanden, sich auf das neue Arbeitsfeld einzustellen. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass es auch eine Gruppe gibt, die sich schwertut, insbesondere, wenn diese Form von Breitenarbeit nicht gut in das selbst definierte persönliche Berufsbild passt. Leider sind viele Bedenken und Vorschläge der Musikschulen zu wesentlichen Modifikationen des Programms konsequent überhört worden. Tempo und Quantität stand hier vor konzeptioneller Sorgfalt und Qualität. Ich bin aber sehr optimistisch, dass es uns hier im Dialog zwischen Grundschulen, Musikschulen und Landesregierung gelingen wird, Weichen zu stellen, die sich auch positiv auf die Arbeitssituation der Lehrkräfte auswirken. Andererseits ist JeKi für unsere durch Einstellungsstopp alternden Kollegien zu einer Frischzellenkur geworden: Seit Projektbeginn sind alleine in Dortmund im Umfang von 35 vollzeitverrechneten Stellen Verträge erweitert oder neu eingerichtet worden für insgesamt ca. 100 zumeist jüngere Lehrkräfte. Nachwuchsprobleme gibt es bislang nicht.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2012.