Schie, Johanna / Stefan Prophet

„Wir verlieren die Kinder…“

Die Kontinuität nach dem zweiten JeKits-Jahr ist gefährdet

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2017 , musikschule )) DIREKT, Seite 10

Die Verkürzung des JeKits-Programms auf zwei Jahre stellt die beteiligten Kommunen vor die Aufgabe, Anschlussprogramme zu entwickeln, um die Kinder nach dem zweiten Jahr nicht zu verlieren. Daraus ergeben sich viele Fragen. Antworten suchen Johanna Schie, Leiterin der Musik- und Kunstschule Duisburg, und Stefan Prophet, Leiter der Musikschule Recklinghausen.

Wie sieht die aktuelle Situation in ­Duisburg aus?
Schie: Duisburg beteiligt sich seit 2007 am JeKi-Programm, ab 2011 waren insgesamt 52 Duisburger Grundschulen in JeKi eingebunden. Davon haben sich 49 bei der Umstellung 2015 für JeKits beworben. Zu meiner Überraschung haben sich 34 Schulen für den Schwerpunkt Instrumente entschieden, elf für Tanzen und vier für Singen. Aktuell haben sich leider wieder zwei Instrumental-Grundschulen aus organisatorischen Gründen für den Ausstieg entschieden.

Wie sind die Zahlen in Recklinghausen?
Prophet: Wir sind ebenfalls seit Beginn im Jahr 2007 dabei. Zum Ende von JeKi waren es 13 Grundschulen. Bis auf eine haben sich alle für eine Neubewerbung und Teilnahme an JeKits entschieden. Durch eine erfolgreiche neue Bewerbung für den Schwerpunkt Singen und eine Schulzusammenlegung sind es nun 14 Grundschulen an 18 Standorten. Das ist eine ziemlich großflächige Abdeckung, nur zwei Grundschulen sind nicht beteiligt.

Welche Erfahrungen haben Sie mit dem zweiten JeKits-Jahr gemacht?
Schie: Die Anmeldezahlen für das zweite Jahr sind in JeKits weitgehend konstant und mit den Zahlen in JeKi vergleichbar. Die Instrumentenvielfalt ist geringer geworden. Obwohl wir massiv für Blasinst­rumente geworben haben, sind Gitarre und Keyboard die Spitzenreiter und dann ein bisschen Violine und Querflöte. Die Musikschule hat kaum Einfluss auf die Instrumentenwahl.
Prophet: Auch bei uns sind die Anmeldezahlen vergleichbar mit denen aus JeKi-Zeiten. Wir haben den Instrumentenkanon in Absprache mit den Grundschulen verkleinert, um Enttäuschungen bei der Inst­rumentenwahl zu vermeiden. Bei den gewählten Instrumenten hat sich nichts verändert: Gitarre, Keyboard und mit weitem Abstand folgt Violine. Wir haben gleichzeitig auf „JeKits-Tage“ umgestellt. Alle Lehrkräfte sind nun an einem mit der Grundschule fest vereinbarten Tag gleichzeitig vor Ort, unterrichten parallel und betreuen auch die Orchester im Team.

In Duisburg haben sich einige Schulen für den Schwerpunkt Tanzen entschieden.
Schie: Die Umstellung auf Tanzen und Singen war schwierig zu vermitteln. Die Grundschulen hatten sich das einfacher vorgestellt. Vor allem gab es Fragen von den Eltern der neuen Erstklässler, die noch musizierende JeKi-Kinder in höheren Klas­sen erlebten. Der Grund für den Wechsel war meistens die als aufwändig empfundene Organisation der Instrumentenausleihe und -lagerung, aber auch die fehlende Begleitung und Unterstützung durch die Elternhäuser.

Das Ensemblespiel von Beginn an ist das Kernstück des JeKits-Programms. Wie wurde das angenommen?
Prophet: Durch unsere JeKits-Tage und die Tatsache, dass wir in fast allen Grundschulen hierfür die fünfte und sechste Stunde nutzen können, gab es für die unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen ganz neue Möglichkeiten. Eine gewisse Skepsis war vorhanden, es herrschte aber auch deutliche Aufbruchstimmung, die durch die begleitenden Fortbildungen und die JeKits-Akademie befeuert wurde.
Schie: Das Orchesterspiel von Beginn an wurde zunächst von den Grundschullehrkräften und vielen Eltern als problematisch angesehen. „Die können ja noch nichts, wie soll das denn funktionieren?“ Die Musikschullehrkräfte haben sehr unterschiedlich reagiert. Wir haben intern verschiedene Fortbildungen angeboten und durch das Pilotprojekt der Stiftung in den Jahren zuvor Erfahrungen sammeln können. So wurden Chancen gesehen, auch mit neuen, improvisatorischen Elementen umzugehen und die Kinder für das gemeinsame Musikmachen zu begeistern.

Die Anschlussangebote ab dem dritten Jahr sind in Duisburg und Recklinghausen unterschiedlich.
Prophet: Grundsätzlich stehen in Recklinghausen alle Unterrichtsformen der Mu­sikschule für eine Fortsetzung zur Verfügung. Alle können weiterhin in der Grundschule wahrgenommen werden. Die Kontinuität des JeKits-Gedankens haben wir im Folgeangebot JeKits-plus gewährleisten wollen. Die Resonanz war allerdings erschreckend. Einige wenige Schülerinnen und Schüler sind in Partner- und Einzel­unterricht gewechselt. Die Anmeldezahlen für JeKits-plus betragen nur etwa ein Drittel dessen, was wir aus JeKi-Zeiten in der dritten Klasse gewohnt waren.
Das hängt ganz wesentlich an den Entgelten. JeKi und auch JeKits sehen eine vollständige Entgeltermäßigung vor, das ist in den kommunalen Folgeangeboten nicht möglich. Auch nach Berücksichtigung aller Ermäßigungsmöglichkeiten bleiben etwa acht Euro im Monat. Instrument und Ensemblestunden sind da schon mit drin.
Schie: Das Folgeangebot haben wir Instrumente, Tanzen, Singen Plus genannt. Ein wöchentliches festes Ensembleangebot in der Grundschule war finanziell nicht darstellbar, denn die Entgelte wären trotz Ermäßigung zu hoch und die Kommune hat die Lehrkraftkosten zu tragen. Wir konnten aber einen Sondertarif einrichten, der nur für die Schülerinnen und Schüler gültig ist, die am „JeKits 2“-Unterricht teilgenommen haben. Die Entgelte für Instrumente Plus liegen bei 28 Euro monatlich, inklusive Leihinstrument, für Tanzen Plus bei 17 Euro und für Singen Plus sind es 12 Euro. Dabei ist das vielfältige und auch dezentrale Ensembleangebot der Musik- und Kunstschule kostenfrei nutzbar. Wir gewähren 50% Ermäßigung und akzeptieren die BuT-Gutscheine, sodass damit für Inst­rumente Plus ein monatlicher Beitrag von vier Euro zu leisten ist.
Alle Bereiche wurden durch gesonderte Flyer beworben, es wurde auf Elternabenden auf dieses Angebot hingewiesen und es gab sogar personalisierte Anschreiben für jede „JeKits 2“-Familie mit Anmeldeformularen. Trotzdem ist bei Tanzen und Singen keine einzige Plus-Gruppe zustande gekommen und bei Instrumental maximal die Hälfte im Vergleich zum dritten JeKi-Jahr.
Prophet: Flyer, Anschreiben, Elternabende, persönliche Ansprache, auch Anrufe – das haben wir auch großflächig gemacht, die Grundschulen, die ihre Familien selbst am besten kennen, haben uns unterstützt. Geholfen hat das wenig. Bei vielen Familien sind das neue Programm und der Unterschied zum vierjährigen JeKi gar nicht angekommen. Aber auch die engen Zeitfenster für den nun am Nachmittag stattfindenden Unterricht werden oft als Gründe genannt.
Schie: Das kann ich bestätigen. Die Schülerinnen und Schüler gehen leider kaum in Orchester. Viele Eltern unterstützen das nicht, sondern sehen darin eher eine Belastung. Ab dem zweiten Schuljahr gibt es mehr Hausaufgaben, andere Freizeitaktivitäten kommen dazu, deswegen wird ein weiterer Termin nicht akzeptiert. Das Anschlussangebot baut aber auf JeKits mit Orchester von Beginn auf. Diese Komponente darf nicht verloren gehen und stellt meines Erachtens eine große Herausforderung dar.
Prophet: Von den wenigen, die sich für JeKits-plus entschieden haben, wird das Orchester angenommen. Das mag aber auch an unserer Struktur der JeKits-Tage liegen. Bei Extraterminen sähe das anders aus.
Schie: Hinderlich ist auch oft die Offene Ganztagsschule, die nur angemeldete Kinder versorgen darf. Es ist nicht möglich, punktuell die Folgeangebotskinder an einzelnen Tagen aufzufangen. Da es sich um ein reines Musikschulangebot in der Schule handelt, sieht sich die Grundschule nicht mehr in der Mitverantwortung. Es sind leider die sozial schwachen Familien, die das Folgeangebot nicht wahrnehmen. Da hilft auch kein Zureden, die Mittel sind nicht da. Es fehlt allerdings auch die Bereitschaft, die wenigen Mittel in kulturelle Bildung zu investieren. Bildungsferne Familien können die Abläufe nicht bewältigen.
Prophet: So ist es. Und das ist keine Frage der Kommunikation, der Medien und der verwendeten Sprache. Wir verlieren die Kinder aus sozial schwachem Umfeld. Nicht etwa, weil die Kinder nicht mehr musizieren möchten, sondern weil oftmals ihre Familien und ihr soziales Umfeld den Wert und die Bedeutung nicht erkennen und daher nicht angemessen unterstützen oder dem ganzen Verfahren mit Anmeldung und Ermäßigungsanträgen, dem „Papierkrieg“ hilflos gegenüberstehen.

Sind damit Inhalte und Ziele von JeKits grundsätzlich gefährdet?
Schie: Das kann man so nicht sagen. Das zweite Jahr funktioniert sehr gut. Es hat sich eine große Eigendynamik durch das gemeinsame Musizieren von Beginn an ent­wickelt. Das Orchester als Kernstück von JeKits formuliert klare Ziele und Inhalte, die wir bereits im ersten Jahr vermitteln und praxisorientiert im zweiten Jahr ausbauen können. Die Kontinuität bricht aber an der Stelle ab, an der das dritte und weitere Jahre in kommunaler Eigenverantwortung laufen.
Prophet: Durch die Erfahrungen aus dem vierjährigen JeKi kennen wir im Ruhr­gebiet eben anderes. Mit den Erfahrungen aus JeKi und dem ersten Durchgang von JeKits gilt es, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Es muss wieder gelten: Grundschulzeit ist JeKits-Zeit. Dabei muss die Grundschule ständig eingebunden und in der Mitverantwortung sein. Im ersten Jahr hat sich das Tandem bewährt, warum soll es nicht im Orchester fortgesetzt werden? Und auch in der dritten und vierten Klasse muss breite Teilhabe gewährleistet sein. Das bedeutet gleiche und umfassende Sozialermäßigung im gesamten JeKits-Land, unabhängig von dem, was die Kommune leisten kann. Im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung ist im Zusammenhang mit JeKits von „bedarfsgerechter Weiterentwicklung“ die Rede. Um die breite Wirksamkeit des Programms sicherzustellen, wäre das die richtige Konsequenz.