© Jérôme Gravenstein

Türk-Espitalier, Alexandra

Wohltuende Gewohnheiten

Musikphysiologie im Instrumental­unterricht mit Kindern und Jugendlichen

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2019 , Seite 28

Die Grundsteinlegung für ein späteres beschwerdefreies Musizieren beginnt am Besten im Kindes- und Jugend­alter. Alexandra Türk-Espitalier gibt Tipps, wie man auch in kurzen Unterrichtseinheiten erfolgreich an Haltung und Körperwahrnehmung arbeiten kann.

Die Prävention spielbedingter Erkrankungen ist ein wichtiger Teilbereich der Musikphysiologie. Sie ist aber auch ein Gebiet, bei dem sich die Vernunft und die eigene Nachlässigkeit einen permanenten Kampf liefern. Beste Beispiele dafür sind der Lebenswandel und die Ernährung. Jeder weiß, wie schädlich Zucker, Rauchen, Alkohol und mangelnde Bewegung für die Gesundheit sind und trotzdem schiebt ein Großteil der Bevölkerung die wissenschaftlichen Fakten zur Seite und glaubt, dass eine Erkrankung sie selbst nicht treffen werde, frei nach dem Motto: „Krank werden immer nur die anderen.“ Erst wenn Beschwerden auftreten, geht der Mensch zum Arzt oder ändert sein Verhalten.
Warum sollte dieses grundlegende Muster beim Musizieren anders sein? Solange alles funktioniert, man durch Üben sein Niveau verbessert, das Spielen Spaß macht und nichts schmerzt, denkt kaum jemand über das Thema Prävention nach. In dem Moment aber, in dem einem der Körper die Grenzen aufzeigt und man vielleicht sogar wegen Schmerzen zu einer Spielpause gezwungen ist, werden eine musikerspezifische Behandlung und Übungen auf einmal sehr attraktiv. Wenn nach einem Krankheitsfall das Spielen wieder aufgenommen werden kann, bleibt die Motivation zur regelmäßigen Durchführung von musikphysiologischen Körperübungen im Allgemeinen recht hoch, da man – wenngleich auf bittere Art und Weise – gelernt hat, dass man auch am Instrument nicht unverwundbar ist. Man weiß, dass man die Übungen jetzt machen muss, egal ob sie einem Spaß machen oder nicht. Ein Sieg der Vernunft sozusagen.
Die soeben beschriebenen MusikerInnen gehören per definitionem zur Gruppe derer, die Sekundärprävention betreiben. Sekundärprä­vention bedeutet, dass nach einer verheilten Krankheit die betroffenen Personen in einer Weise präventiv tätig sind, dass die Krankheit nicht wieder auftritt. Bei der Tertiärprävention bleibt die Erkrankung bestehen, aber die Personen passen ihr Verhalten dementsprechend an, dass zumindest versucht wird, weiteren Schäden, die die Erkrankung mit sich bringt, vorzubeugen. Menschen, bei denen noch gar keine Beschwerden aufgetreten sind, die aber die Informationen aus Forschung und Wissenschaft nutzen, um sich so zu verhalten, dass möglichst keine Probleme auftreten, gehören zur Gruppe derer, die Primärprävention betreiben.

Motivation

Kinder und Jugendliche im Instrumentalunterricht sind im Allgemeinen gesund und noch jung genug, um nicht dauerhaft von typischen spielbedingten Erkrankungen wie muskulären Überlastungssyndromen oder Rücken- und Schulterschmerzen heimgesucht zu werden. Sie sollten daher in die Gruppe der Primärprävention fallen. Die Studienlage zeigt allerdings, dass auch schon bei Jugendlichen Schmerzen des Bewegungsapparats beim Spielen verbreitet sind und man es daher auch hier mit Personen für die Sekundärprävention zu tun hat.1
Die Gründe für spielbedingte Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen sind vielfältig. Eine wichtige Thematik ist die Instrumentenergonomie. Häufig passen die Instrumentengröße oder Einstellungen von Schulterstütze und Kinnhalter nicht zum Kind. Dann reichen auch schon kurze Übezeiten aus, um zu Verspannungen zu führen. Fehler in der Spieltechnik können eine weitere Ursache für Beschwerden sein. Des Weiteren ist das Wachstum eine Phase, die bei einigen Jugendlichen zur zeitweiligen Verschlechterung der Koordination, zu Ungleichgewicht des Muskeltonus und zu einer unterspannten Grundhaltung führen kann. Hier stehen der Instrumentallehrkraft viele Möglichkeiten zur Verfügung, um mit Übungen positiv auf die Haltung der SchülerInnen einzuwirken.
Aber wie motiviert man Kinder, die zum Glück noch keine Schmerzen haben, extra Übungen zu machen? Und wie motiviert man Jugendliche, die vielleicht Schmerzen haben, sich aber denken, das ginge sowieso von selbst wieder vorbei? Ist es nicht ein Privileg der Jugend, sorglos zu sein? Viele Kinder möchten aus Spaß an der Musik ein Instrument erlernen und nicht mit unangenehmen Themen konfrontiert werden. Nimmt man ihnen damit nicht das Vergnügen am Spielen, die unbeschwerte Freude an der Musik?
Prävention hat leider ein vernunftbetontes und spaßfreies Image. Sätze wie: „Wenn du jetzt deine Übungen nicht machst, wirst du später einen Bandscheibenvorfall bekommen!“ funktionieren schon bei Erwachsenen nicht – und bei Kindern noch viel weniger. Aber Kinder möchten spielen und sie möchten, dass es am Instrument gut klingt und gut klappt. Das kann man sich als LehrerIn zu Nutze machen und musikphysiologische Übungen immer in einen direkten Bezug zum Instrument und zum Spielen stellen. Zwei Arten von Übungen eignen sich hierfür besonders gut: Übungen zur Körper- und Klangwahrnehmung und Routineübungen, die in feste Abläufe eingebunden werden.

1 vgl. Walter Samsel/Gerd Marstedt/Helmut Möller/Rainer Müller: Musikergesundheit. Ergebnisse einer Befragung junger Musiker über Berufsperspektiven, Belastungen und Gesundheit, Schriftenreihe zur Gesundheitsanalyse, Band 39, GEK Gmünder Ersatzkasse, St. Augustin 2005; Claudia Spahn: Musikergesundheit in der Praxis. Grundlagen, Prävention, Übungen, Leipzig 2015.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2019.