Gutzeit, Reinhart von

Wovon die Oper lebt

Gespräch mit Eike Gramss über die darstel­lerische Ausbildung von Sängerinnen und ­Sängern und den Beruf des Opernregisseurs

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2010 , Seite 22

Der Theaterregisseur und Intendant Eike Gramss war nach seinem Stu­dium an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in Hamburg zunächst Oberspielleiter der Sparte Schauspiel in Heidelberg, Augsburg und Darmstadt. Von 1985 bis 1991 war Gramss Generalintendant in Krefeld/Mönchengladbach, seit 1991 ist er Direktor am Stadttheater Bern. Opernregien u. a. in München, Berlin, Dresden, Düsseldorf, Basel, Mont­pellier, Athen, Trieste, Florenz und London. Über seine Tätigkeit als Pro­fessor an der Universität Mozarteum Salzburg sprach Reinhart von Gutzeit mit ihm.

Lieber Herr Gramss, üben & musizieren widmet ein Heft dem Thema „Musik inszenieren“ – gemeint in einem sehr umfassenden Sinn. Die unmittelbarste und vertrauteste Weise, Musik zu inszenieren, begegnet uns im Musiktheater. Dieser Begriff wurde vor einigen Jahrzehnten eingeführt. Er sollte vor allem eine Abkehr von einer Opernpraxis signalisieren, die in erster Linie darauf abzielte, schöne Stimmen zu präsentieren. Kann man sagen, dass der mit dem Begriff „Musiktheater“ verbundene Anspruch eingelöst würde?
Erfreulicherweise ist ja ganz offensichtlich, dass in den letzten Jahren in den allermeis­ten Fällen im Opernbetrieb eine ganz außerordent­liche Entwicklung nicht nur bei den Sängern stattgefunden hat. Die szenischen Ansprüche und vor allem die darstellerischen Leistungen haben sich auf breiter Ebene sehr entwickelt. Dass auch in der Vergangenheit die großen Ausnahmesänger fast immer auch große Darsteller waren, ist ohnehin klar.

Das bedeutet aber, dass die Sängerinnen und Sänger, wenn sie die Hochschule verlassen, nicht nur stimmlich und musikalisch optimal ausgebildet sein sollten, sondern auch als Darsteller. Hatten Sie, der Sie so lange Intendant gewesen sind, bei Vorsingen den Eindruck, dass die Hochschulen in diesem Sinne erfolgreich gearbeitet haben?
Um ehrlich zu sein, man fragt bei einer Audition nicht immer nach der Ausbildung; besonders dann nicht, wenn jemand so singt, dass man ihn engagieren möchte. Auf jeden Fall ist deutlich zu merken, dass die Ausbildung in diesem Punkt sehr viel anspruchsvoller geworden ist. Man erlebt heute sehr selten Sängerinnen und Sänger, die darstellerisch unbegabt, ängstlich und unwillig sind.

In einem Alter, in dem die meisten Menschen schon in Pension sind, sind Sie in das „Ausbildungsfach“ gewechselt und arbeiten nun mit Sängerinnen und Sängern an der szenischen Darstellung ihrer Partien und an ganzen Opernprojekten. Haben Sie das Gefühl, einen neuen Beruf begonnen zu haben, oder ist es die Fortsetzung der bisherigen Arbeit mit anderen Mitteln?
Im Herbst 2007 habe ich begonnen, mit Gesangsstudenten szenisch zu arbeiten, um sie für ein Operndiplom am Mozarteum in Salzburg vorzubereiten. Ich konnte dabei zwar auf eine lange Praxis als Regisseur in Oper und Schauspiel zurückgreifen, ein theoretisches pädagogisches Grundgerüst aber hatte ich nicht. So wollte und konnte ich in keinem Fall den Versuch machen, eine ernst zu nehmende pädagogische Arbeit vorzutäuschen.
Die Regiearbeit mit Studenten setzt natürlich lange, gründliche päda­gogische Vorarbeit während des Gesangsstudiums voraus. Meine Tätigkeit als Regisseur mit Gesangsstudenten konnte ich mir nicht als pädagogische denken. Konsequenterweise musste ich den Studenten sagen, dass ich lediglich meine Regiearbeit anbieten könne, dass ich sie behandeln wolle wie junge Sänger, die ich bei einer Theaterproduktion in einem professionellen Umfeld treffen würde. Ohne spezielle pädagogische „Streicheleinheiten“, aber mit Geduld und Fairness, wie es sich auch sonst gehört.

Kommen die jungen Sängerinnen und Sänger damit zurecht? Sie sind ja eine sehr „pflegliche“ Betreuung durch ihre Lehrenden gewöhnt, für die es gerade im Fach Gesang durchaus gute Gründe gibt…
Ich wollte mir auf keinen Fall jene überprotektive Besitzergreifung des jungen Künstlers durch den Lehrenden herausnehmen, wie ich sie gelegentlich beobachtet hatte. Diese oft zu persönliche Methode schien mir mehr den emotionellen Bedürfnissen des Lehrenden als den beruflichen und künstlerischen Bedürfnissen der jungen, aber erwachsenen Künstler zu entsprechen. Ich sehe an der Reaktion der Sängerinnen und Sänger, dass sie diese Art Zugang schätzen und dass sie sich in den meisten Fällen mit höchstem Einsatz und mit höchster Neugier an die Arbeit machen. So unterscheidet sich die Arbeit in der Universität in meiner Wahrnehmung zunächst nicht sehr von der Probenarbeit im Theater an einer Inszenierung. Der einzige Unterschied: Das Ensemble ist eben einfach jünger.

Es ist ein sehr partnerschaftliches Bild von Zusammenarbeit, das Sie entwerfen…
Es ist ja für jeden Regisseur klar, dass es kein Ende des Lernens in künstlerischen Sachen geben kann. So empfinde ich meine Arbeit kaum als die eines Lehrenden, so wie ich die Arbeit der jungen Künstler nur bedingt als die von Lernenden empfinde. Die Spontaneität, auch die junge Sicht der jungen Leute auf Inhaltliches im zu erarbeitenden Werk konfrontiert den Regisseur ständig mit neuen Überraschungen und Einsichten. Dadurch wird oft er, der „Erfahrene“, urplötzlich zum Lernenden.
Es entsteht idealerweise – manchmal, nicht immer natürlich – der Zustand einer gegenseitig fruchtbaren, anderen Art von für mich sehr neuer Erfahrung, die mir viel bedeutet: ein gemeinsames Erleben des Werks, in dem sich die Vorzüge des Alters und der Jugend auf eine für beide wertvolle Weise durchdringen können. So kann es manchmal gelingen, dass Szenisches und Musikalisches eigentlich untrennbar werden. In solchen Momenten kann dann auch in einer Universitätsaufführung Außerordentliches geschehen.

Fast meine ich herauszuhören, dass in Ihren Augen das „geschützte“ Ausbildungsumfeld an der Hochschule Chancen für künstlerische Ereignisse öffnet, die sich im harten Profialltag nur selten ergeben…
Sicherlich erlebe ich diesen Moment, den schönen, guten, weil wahren Moment der Findung in der Arbeit mit den jungen Leuten im Mozarteum häufiger als anderswo. Dafür gibt es Gründe: Der nächstliegende ist, dass die Studierenden noch nicht unter dem vollen Exis­tenzdruck stehen, wiewohl wir alle wissen, dass er schon verdeckt – aber eben noch nicht wirklich – da ist. Man kann ihn noch, wenn man will, „übersehen“.
Auch in der Uni gibt es schon kleine Posi­tionskämpfe und Statussachen. Wer darf in der Premiere singen, wer gehört zur „Zweitbesetzung“? Aber sie verändern sich tröstlicherweise noch oft und sind noch durch studentisches Zusammenleben gemildert. Vor allem aber kommt wirklich niemand zur Probe mit einer Rolle, die er schon in drei oder mehr Inszenierungen gesungen hat. Niemand hat das Gefühl, schon alles zu wissen. Es ist immer die erste Begegnung. Das heißt dann auch, dass niemand unangenehm reagiert, wenn es eine künstlerische Auseinandersetzung gibt. Und es fühlt sich auch niemand in Frage gestellt, wenn es um sehr detaillierte Beschäftigung mit dem szenischen Ausdruck anhand des Klavierauszugs geht und er oder sie auf Überlesenes, nicht Beachtetes aufmerksam gemacht wird.

Diese liebevolle, zeitaufwändige Detailarbeit ist freilich im Berufsalltag schon aus pragmatischen Gründen oft nicht möglich. Man denke nur an den gastierenden Sänger, der vom Abendspielleiter gerade noch so weit instruiert werden kann, dass die Inszenierung überhaupt „funktioniert“.
Das ist richtig. Ein großer Vorteil der Situa­tion an der Hochschule ist, dass der im Theater immer vorhandene Zeitdruck noch nicht so bestimmend ist. Am Theater kann man es sich nicht leisten, sich dreieinhalb Monate täglich mit der musikalischen Rhetorik Monteverdis zu beschäftigen. Man darf aber bitte auch nicht behaupten, dass die fertigen Profis nur unter Druck stehen, sich nichts sagen lassen wollen und auf Kritik wie Mimosen reagieren.

Noch einmal zum Thema „inszenierte Musik“. Wenn von den Sängerinnen und Sängern heute sehr viel mehr an darstellerischen Fähigkeiten erwartet wird, darf man sich wohl wünschen, dass umgekehrt die Regisseure viel von Musik verstehen und erkennen können, was sich in der Partitur verbirgt. Müssen Regisseure musikalisch sein?
Ein unmusikalischer Mensch hat in diesem Beruf nichts verloren. Eine gute Inszenierung nimmt ihre Hauptimpulse aus der Musik. Der allererste Impuls für eine Opernregie, ja für die Berufswahl als Opernregisseur ist die Musik, ist die Liebe zu ihr. Liebe und Wissen um Musik allein reichen aber auch nicht. Die Oper ist in ihrer Verquickung von Musik, Text, Bild, Historie etc. ja eine echte Bordellkunst, in der Puristen keine Chance haben. So kann man sagen, dass über die Liebe zur Musik hi­naus eine Art fundierter kaleidoskopischer Halbbildung hilfreich ist. Auf Regisseure könnte man einen Spruch des Kabarettisten Hanns Die­ter Hüsch anwenden: Er weiß nichts wirklich, kann aber alles erklären. Basis bleibt aber die Musik. Trotzdem ist es manchmal erstaunlich, was Opernregisseure in dieser Hinsicht so alles in einer Oper hören, vor allem aber nicht hören. Vor künstlerischer Ignoranz schützt auch beste Notenkenntnis nicht. In jedem Beruf gibt es leider eine gewisse Quote von Leuten, die den Beruf verfehlt haben. Tröstlicherweise muss das aber nicht unbedingt ein Hindernis für die Karriere sein…

Welchen Ausbildungsweg würden Sie jemandem empfehlen, der seine Zukunft in der Opernregie sucht?
Voraussetzung ist, von wenigen Spätberufenen einmal abgesehen, dass man sich seit Kindertagen irgendwie mit Musik konfrontiert sah. Dass man Lust an Literatur, an Geschichte, an Kunst, an Filmen usw. hat. Da gibt es nichts auszubilden. Früher war man Schauspieler und „bequatschte“ seinen Intendanten erfolgreich für eine Regie oder war ein guter Dramaturg mit einem Sinn für szenische Situationen. Ein großer Opernregisseur wie Jean-Pierre Ponnelle kam vom Bühnenbild. Manche waren Assistenten wichtiger Regisseure, ein Weg, der allerdings selten in die eigenständige Regie geführt hat. Erfreulicherweise hat sich auf diesem Gebiet enorm viel entwickelt in den letzten zwanzig Jahren. Die großen Hochschulen bieten sehr fundierte Studiengänge an. Es ist auch Geld und Bereitschaft da, erfahrene Praktiker zur Unterrichtung von Regiestudenten zu gewinnen. Es gibt wirklich bedeutende Regisseure, die immer wieder zu den Studenten gehen.
Die einzige Einschränkung, die ich sehe, ist die einer Ausbildung von zu vielen jungen Regisseuren. Es herrscht jetzt schon die Situation, dass gut ausgestattete große Bühnen für die vielen talentierten Leute mikros­kopisch kleine Gagen zahlen. Das führt dazu, dass immer mehr junge Begabungen mit zwei Produktionen im Jahr für fast kein Geld auskommen sollen – den Rest können sie sich dann über Arbeits­losengeld holen. Dass ein junger Mensch eine feste Anstellung findet, in der er mit anderen seines Jahrgangs sich eine Art Ensemblearbeit aufbauen kann, gibt es fast nicht mehr. Das Angebot ist zu groß. Das Hochjubeln, Überfordern und dann beim ersten Misserfolg Fallenlassen ist die verbreitete Strategie.
Es gilt, wie auch auf anderen Gebieten der Ausbildung für Theater, also für Sänger, Schauspieler, Regisseure, Bühnenbildner, Dramaturgen, dass viel zu viele ausgebildet werden, die in Illusionen gehalten werden. Warum das so ist, ist nicht ganz klar. Ein Verdacht: Dient es der Sicherung der Arbeitsplätze zu vieler Unterrichtender? Dabei haben sich die Arbeitsbedingungen übrigens auch im Schauspiel erfreulicherweise fast an allen Hochschulen enorm verbessert. Die jungen Leute haben Möglichkeiten, von denen meine Generation nur träumen konnte. Da muss ich nur an unsere Räumlichkeiten hier in Salzburg denken: ein Opernstudio mit 400 Plätzen, eine zusätzliche Probebühne mit den gleichen Ausmaßen, mehrere Probebühnen für die Schauspie­ler und ein Kammerspielhaus, das jedem Profi-Theater gefallen würde.

Sie haben einen unendlichen Erfahrungsschatz sammeln können, von dem auch die Studierenden in gehörigem Maß profitieren. Sie haben als Regisseur und als Intendant gearbeitet; an den unterschiedlichs­ten Häusern, in vielen Ländern mit sehr ungleichen Kulturen und Tra­ditionen auf dem Gebiet der Oper. Gibt es eine Art von Gesamtschau?
Nach langer Arbeit an kleinen, mittleren und großen Theatern mit ganz unbekannten, mit etablierten, mit erfahrenen, auch mit großen, reifen Künstlern stellt sich in beginnender Rückschau (ich mache noch eine Zeit lang ­etwa zwei Produktionen im Jahr am Theater) manches anders dar, als es die künstlerischen Hackordnungen und Importanzregister am Theater von unten nach oben vermuten lassen. Wenn der Aufenthalt in einem Proberaum nichts anderes ist als eine Art von spielerischer Wahrheitssuche über menschliche Situationen anhand von einem Stück Theater, so kann diese Suche in einem kleinen Zimmer im Hinterraum einer Gaststätte (wie ich es erlebt habe) fast ohne Hilfsmittel erfolgreich sein – oder auf einer mit allen möglichen Mitteln perfektionierten Probebühne (die ich auch kenne) an einem Großtheater. Auf beiden Bühnen aber, der großen und der armseligen, kann diese Suche dann eben auch immer misslingen.

Welch eine Verantwortung, junge Sängerinnen und Sänger darauf vorzubereiten, in dieser schwierigen Welt zu reüssieren. Wie können wir ihnen dabei am besten helfen?
Es ist keineswegs die Ausschüttung des heiligen Besserwissens durch den Professor, die den jungen Künstlern hilft. Es ist ein Geben und Nehmen, bei dem der vermeintlich Lehrende immer nur genau so viel geschenkt bekommt, wie er zu geben bereit ist. Die gemeinsame Ebene ist darum immer auch eine leidenschaftliche, hoffentlich künstlerische – und wenn sie dann wirklich künstlerisch sein sollte, ist sie übrigens auch in gewissem Sinn immer eine egoistische Ebene: Man will Freude haben! Das ist ein Anspruch. Natürlich ein gegenseitiger! Aber das ist auch ganz klar: Die angestrebte Freude setzt viel Arbeit, Anstrengung, Verzicht und vor allem Disziplin von allen Beteiligten voraus.

Ich konnte immer wieder beobachten, dass die Studenten Ihnen großes Vertrauen entgegenbringen und sich in jeder Hinsicht gut behandelt fühlen. Gibt es ein besonderes „Rezept“?
Für die Arbeit mit den Jungen gilt, sie bei allem Respekt vor den Großen der Zunft zu behandeln, als ob klar wäre, dass auch sie potenziell Große sind, dass sie etwas Besonderes sind, dass man an sie glaubt und vieles von ihnen erwartet. Es ist bei einem 24-jährigen Sänger, der noch heftig mit technischen Problemen kämpft, nicht voraussehbar, ob nicht mit dreißig der große Knopf aufgeht und er oder sie zu blühen beginnt. Jede und jeder der jungen Leute ist ein wunderbares Versprechen. Man wird dem nur gerecht, wenn man jede professorale Selbsterhöhung vermeidet und einfach mit den erwachsenen jungen Menschen gut und respektvoll arbeitet. Dieses zu versuchen, betrachte ich als großes Privileg.

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