Hauff, Andreas

Zeitreise in die deutsch-jüdische Vergangenheit

Abraham Zvi Idelsohns Liederbuch „Sefer Ha-Shirim“ erlebt nach 110 Jahren eine Neuauflage

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 50

Wer das 1912 von Abraham Zvi Idelsohn herausgegebene deutsch-jüdische Liederbuch Sefer Ha-Shirim aufschlägt, findet unter der Nr. 34 die Melodie eines bekannten Liedes mit dem Text: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, was bist du schlank und hoch“. Nicht das Weihnachtsfest wird hier besungen, sondern die blanke Natur in Gestalt eines Nadelbaums. Idelsohn hat das Lied unter die Rubrik „Marsch- und Turnlieder“ eingereiht – zur damaligen Hoch-Zeit von Jugendbewegung und Wandervogel eine naheliegende Entscheidung! Im Gesamtkontext des Buchs ist das „Lied von der Tanne“ eigentlich eine Nebensache – allerdings so auffällig, dass es bei der Buchvorstellung im Mainzer Landesmuseum erwähnt wurde. Es zeigt im Kleinen, was der instinktive Griff in ein Regal der Israelischen Nationalbibliothek ermöglicht hat: eine Zeitreise in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, hinein in die gemeinsame Geschichte von Deutschen und Juden, die man manchmal mit dem umstrittenen Begriff „deutsch-jüdische Symbiose“ bezeichnet hat.
Die deutsch-israelische Initiative „Projekt 2025 – Arche Musica“, geleitet von Andreas und Thomas Spindler, hat sich zum Ziel gesetzt, vergessene Kompositionen und Musikstücke aus der Zeit von 1890 bis 1945 zu bewahren, sie zu digitalisieren und einem größtmöglichen Kreis an Menschen zu erschließen. Die erfolgreiche Emanzipation des Judentums und seine weitgehende Integration in die deutsche Gesellschaft fielen in diesen Zeitraum, aber eben auch das NS-Regime, der Holocaust und der dadurch bewirkte Tradi­tionsabbruch. 2019 führte Gila Flam, die Direktorin des Musikarchivs der Israelischen Nationalbibliothek, die beiden Spindler-Brüder und Danny Donner, den Leiter der Musikhochschule von Tel Aviv, durch die noch nicht aufgearbeiteten Archiv-Bestände. Das Wiederauftauchen von Sefer Ha-Shirim war eine Sensation, denn das Buch war völlig vergessen und erst eine gezielte Suche förderte danach ein weiteres Exemplar in der Berliner Staatsbibliothek zutage.
Sein Herausgeber Abraham Zvi Idelsohn gilt als „Vater der jüdischen Musikforschung“. Er wurde 1882 im damals russischen Lettland geboren und machte dort seine Ausbildung zum Kantor. Diese vertiefte er bis 1892 in drei Wanderjahren durch Europa. Bis 1907 lebte und arbeitete er in Deutschland, dann für ein Jahr in Südafrika, schließlich in Palästina, wo er seinen musik-ethnologischen Interessen folgte und sich als Liedsammler betätigte. Sein „deutsch-jüdisches Liederbuch“ konzipierte er von Jerusalem aus. Es war kein religiöses, sondern ein säkulares Projekt, bestimmt für den Gebrauch in Alltag, Freizeit und Schule. Das Buch enthält 49 deutschsprachige Lieder, in denen sich die deutsch-jüdische Tradition spiegelt, darunter zehn von Louis Lewandowski (1821-1894), dem bedeutenden Komponisten vor allem von Synagogalmusik. Weiteren 100 Liedern verschiedenster Herkunft aus jüdischer Tradition unterlegte Idelsohn einen Text in hebräischer Sprache. Sein Denken war einerseits geprägt vom europäischen Ideal einer universellen westlichen Kultur, andererseits von der jungen Vision einer hebräischen Nationalmusik.
Idelsohns verschlungener Berufs- und Lebensweg, der ihn 1922 in die USA und ein Jahr vor seinem Tod 1938 wieder nach Südafrika führte, scheint eine Gratwanderung zwischen diesen beiden Polen gewesen zu sein. Das Liederbuch wirkt wie der Versuch, sich in der Haltung eines Kosmopoliten beide Optionen offenzuhalten. Tatsächlich zerfiel es bei späteren Neuauflagen in einen deutsch-jüdischen und einen hebräischen Teil. Dass Sefer Ha-Shirim 1913 als Schulbuch vom „Hilfsverein der deutschen Juden“ in Berlin herausgebracht wurde, scheint eine pragmatische Lösung gewesen zu sein. Gefördert wurde die Verbreitung von dem prominenten Berliner Industriellen und Mäzen James Simon (1851-1932) – auch er lange vergessen in Deutschland.
Aus dem Bestreben, „nicht nur in den Rückspiegel zu schauen, sondern auch vorwärts“, so Danny Donner bei der Buchvorstellung in Mainz, erwuchs die Idee einer praktisch nutzbaren Neuausgabe. Für diese übernahm Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, die Schirmherrschaft. Die Finanzierung des aufwändigen Projekts besorgte die Friede Springer Stiftung.
Wenig Probleme bereitete bei der Neuauflage im Mainzer Schott-Verlag der deutschsprachige Teil von Sefer Ha-Shirim. Hier wurde im Wesentlichen die 1913 übliche Fraktur-Schrift durch eine zeitgemäße Schrifttype ersetzt. Der hebräische Teil stellte die Herausgeberin Gila Flam und ihren Mitarbeiterstab vor größere Herausforderungen: Idelsohn notierte Text und Noten sämtlicher Lieder nach hebräischem Schriftgebrauch von rechts nach links; zudem benutzte er einen damals gängigen aschkenasischen Dialekt des Hebräischen, der in sorgfältiger Kleinarbeit dem heutigen Sprachgebrauch angepasst werden musste. Details berichtet ein ausführliches Vorwort.
Gesetzt sind die Lieder beider Teile wie im Original: meist ein- oder zweistimmig, einige auch drei- und vierstimmig; die Leserichtung der hebräischen Lieder wurde umgekehrt und ihnen ein sangbarer Text in lateinischer Lautschrift beigegeben. Der deutsche Chorverband, dessen Präsident Christian Wulff bei der Berliner Feierstunde im Bode-Museum persönlich anwesend war, will sich dafür einsetzen, die notierte Musik auch wieder zum Klingen zu bringen.

Das komplette Faksimile des deutsch-­jüdischen Liederbuchs „Sefer Ha-Shirim“ (1912) von Abraham Zvi Idelsohn steht digitalisiert zur Verfügung unter www.arche-musica.org/work/sefer-ha-shirim-das-buch-der-lieder

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