© Inken Kuntze-Osterwind

Rüdiger, Wolfgang

Zuhören macht Musik

Anregungen zum Hören im Instrumentalunterricht

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 12

„Hören […] meint: anders hören, in sich neue Antennen, neue Sensorien, neue Sensibilitäten entdecken […]. Hören heißt: sich selbst neu ent­decken, heißt: sich verändern.“1 Wie im Instrumentalunterricht durch Hören Musik verinnerlicht werden kann, zeigt Wolfgang Rüdiger mit einer Hör-Reise vom Barock bis zur Gegenwart.

„ZuHören“ heißt eine Reihe neuer Kammermusik des Ensembles L’ART POUR L’ART in Winsen, dessen kompositionspädagogischer Ansatz mit dem Horchen und Antworten auf die Klänge der Welt beginnt. Gehen wir umgekehrt davon aus, dass alle Klangereignisse, die uns in Kunst und Alltag begegnen, erst dadurch zu Musik werden, dass wir sie als Musik wahrnehmen, so erweist sich Hören, das auf etwas aufmerksam wird und antwortend auf etwas zugeht, als Mit-Schöpfen von Musik. Pointiert formuliert: Musikwerke als solche gibt es nicht, ohne dass Menschen sie hören, spielen und darüber sprechen. Und wie jeder Mensch auf seine eigene Weise auf Klingendes aufmerksam wird, so ist das Gehörte für jeden auf eine andere Weise bedeutsam (oder nicht).
Hängt das Hören davon ab, wer mit welchem Hintergrund wann, was, an welchem Ort, in welchem Kontext und mit wem zusammen hört, so lassen sich aus Musikstücken niemals bestimmte Hörweisen ableiten – zu verschieden sind die Menschen und zu unterschiedlich die Musiken, deren Hören „etwas jeweils ganz Verschiedenes bedeutet“.2 So sind die folgenden Hör-Vorschläge eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Einen Aspekt aber gibt es, der den Zusammenhang von Werk und Hörweise in den Bereich des Möglichen rückt: Jedes Klangereignis enthält durch den Reichtum seines Daseins, sein Material und seine Machart eine Vielzahl von Anregungen oder Aufforderungen, auf gewisse Weisen zu hören und auf andere nicht. „Die Geste des Hörens ist doch eine andere bei Kammermusik als bei Kinomusik, eine andere bei elektronischer Musik als beim Musizieren mit der Mundharmonika.“3 Und betrachtet man Hören als Handeln – ein achtsames, selbstzweckhaftes Tun –, so lässt sich spielerisch ersinnen, welche Hörperspektiven sich anbieten könnten. Macht Zuhören die Musik, so macht umgekehrt Musik das Zuhören: ein Wechselspiel von Angesprochenwerden und Antworten.

Spiel mit ­Hörkonventionen

Beginnen wir unser Hör-Menü mit einem ersten Gang, bei dem wir uns auf der sicheren Seite fühlen dürfen, bestimmt doch hier das Wissen um bestimmte Hörweisen die Werkgestalt. Dass bei Mozart Hörkonventionen ins Komponieren einfließen – was kann das für uns und unsere SchülerInnen heute bedeuten? Können wir im Unterricht die Ohren im Geiste klassischer Musik spitzen und dies vielleicht sogar HörerInnen nahebringen?
Der dritte Satz von Wolfgang Amadeus Mozarts D-Dur-Sinfonie KV 297, uraufgeführt am 18. Juni 1778 in Paris, ist ein Paradebeispiel für eine Komposition, deren „Gegenstand“ das Hören ist. Im Wissen um die Hörgewohnheiten des Pariser Publikums spielt Mozart hier mit Erwartungshaltungen und Hör-Effekten. Ein Brief an den Vater gibt darüber Auskunft: „weil ich hörte, daß hier alle letzte Allegro, wie die ersten, mit allen Instrumenten zugleich und meistens unisono anfangen, so fing ich mit die 2 violin allein piano nur acht Tact an – darauf kam gleich ein forte – mithin machten die Zuhörer (wie ichs erwartete) beym Piano sch! – dann kam gleich das forte – sie das forte hören und die Hände zu klatschen war eins.“4 Lassen wir uns darauf ein und gönnen uns den Tutti-Jubel des ersten und die Kantabilität des zweiten Satzes, um zu erleben, wie auf den ausgesparten Beginn – schschsch! – der plötzliche Einsatz des vollen Orchesters folgt: Applaus! – Oder hören wir klassische Musik, die damals Pop war, heute ganz anders?
Im Instrumentalunterricht kann genau dies thematisiert werden: dass Musik-Erfinden und Zuhören immer eingebunden sind in bestehende Konventionen, die durch Musik bestätigt oder durcheinandergewirbelt werden – und dass es ein Durchbrechen von Normen und Gewohnheiten ist, das unser Hören besonders herausfordert und Aufmerksamkeit erzeugt. Praktisch könnte dies z. B. dadurch realisiert werden, dass SchülerInnen sich Hörspäße à la Mozart erlauben, indem sie eine mit vollem Klang einsetzende Klaviersonate z. B. mit einem ein- bis zweistimmigen Vorspiel einleiten, wie es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein üblich war – und dann das Stück plötzlich in vollem Glanze beginnen. So sehr eine solche Mini-Improvisation im Unterricht erprobt werden muss, so reich und vielfältig ist der Ertrag dieser historischen Her- und Hör-Führung von Musikstücken: Wenn SchülerInnen sich mit voraushörenden Händen einspielen, werden HörerInnen ihre Ohren besonders spitzen.

Die alltägliche ­Lebenswelt hören

„Wir befinden uns in einem abgeschlossenen Raum oder an einem bestimmten Ort im Freien. Wer hat schon einmal ein Konzert besucht? Oder: Wie verhält man sich, wenn man eine Geschichte vorgelesen bekommt? Man sitzt und hört zu, taucht in das zu Hörende ein. Wir beschließen, über die Dauer von einer Minute unseren Raum oder Ort als Konzert aufzufassen. Wir sitzen, horchen, sprechen nicht und nennen die zu vernehmenden Ereignisse Musik. Der Lehrer behält die Uhr im Blick. Und dann: Was war zu hören?“5
So wie Mozart auf die Hörweisen der Pariser eingeht, können wir unsere alltägliche Lebenswelt auf ihre Klänge hin erkunden – um sie dann gegebenenfalls mit eigenen Klängen anzureichern, ein eigenes Stück daraus zu machen und dies anderen zu hören zu geben. Hören beginnt beim Hören auf die Stille, die voller Klang ist, und mit dem Hören auf die Stimmen, Klänge, Laute anderer und des Alltags, die sich in unsere Körper einschreiben bereits vor unserer Geburt. Hören ist antwortendes Hören auf etwas, das uns vorausgeht und reichhaltiger ist als unsere Antworten.6
Im Instrumentalunterricht könnte es folgendermaßen weitergehen: „War die Minute lang […], fügt der Schüler oder die Schülerin beim nächsten Hören im schönsten, zwingenden Moment des Minuten-Stückes einen neuen, eigenen Klang hinzu. Wie hat sich das Stück verändert? Wie wirkt es sich auf den ganzen Spannungsverlauf aus, wenn ein Fenster geöffnet wird, vor allem: in welchem Tempo? Was geschieht mit dem Stück, wenn das neue Ereignis zu einem anderen Zeitpunkt innerhalb der Minute erklingt?“7
Klänge hören, beschreiben, notieren, ergänzen kann Thema eines Instrumentalunterrichts sein, der sich als schöpferischer versteht und das Erarbeiten von Stücken mit dem Erfinden neuer Stücke verbindet, auch in Erinnerung an Ausflüge, Reisen oder Begebenheiten aus dem alltäglichen Leben, die im Unterricht erzählt und verklanglicht werden.

1 Lachenmann, Helmut: „Hören ist wehrlos – ohne Hören. Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten“, in: ders.: Musik als existenzielle Erfahrung. Schriften 1966-1995, hg. und mit einem Vorwort versehen von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 117 f.
2 Stern [Anders], Günther: „Zur Phänomenologie des Zuhörens (Erläutert am Hören impressionistischer Musik)“ [1927], in: Anders, Günther: Musikphilosophische Schriften. Texte und Dokumente, hg. v. Reinhard Ellensohn, München 2017, S. 211-225, hier: S. 211.
3 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt am Main 1994, S. 152 (Kapitel „Die Geste des Musikhörens“, S. 151-159).
4 Wolfgang Amadeus Mozart, zitiert nach Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 1991, S. 561.
5 Schmeling, Astrid/Kaul, Matthias/Ensemble L’ART POUR L’ART: „Musikerfindung in Beziehung zur Welt – die Kompositionsklasse für Kinder und Jugendliche in Winsen“, in: Vandré, Philipp/Lang, Benjamin (Hg.): Komponieren mit Schülern. Konzepte – Förderung – Ausbildung, Regensburg 2011, S. 53-67, hier: S. 55.
6 vgl. Lessing, Wolfgang: „Der antwortende Hörer. Musikalisches Hören als Fremderfahrung“, in: Diskussion Musikpädagogik, 78, 2018, S. 12-17.
7 wie Anm. 5; vgl. auch Schafer, R. Murray: Anstiftung zum Hören. Hundert Übungen zum Hören und Klänge Machen, hg. von Justin Winkler, Aarau 2002.

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