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Thielemann, Kristin

Zukunft heißt Vernetzung

Wichtiger denn je: ein gemeinsames „Haus der Musik“ für alle Musikschaffenden

Rubrik: Kulturpolitik
erschienen in: üben & musizieren 3/2024 , Seite 30

Aufsuchende Angebote von Musikschulen und professionellen Klangkörpern möchten möglichst vielen Menschen niederschwellig kulturelle, musikalische Erlebnisse ermöglichen. Doch was würde passieren, wenn es zusätzlich ein Musikzentrum gäbe, in dem alle Kulturschaffenden unter einem Dach zu finden sind? Ein Zentrum, in dem die Kulturschaffenden mit einer Stimme sprechen und das der Bevölkerung als „musikalischer Lebensort“ zur Verfügung steht?

„Concordia Domi Foris Pax“ prangt seit dem 15. Jahrhundert auf dem Holstentor der Hansestadt Lübeck. Frei übersetzen könnte man es mit: „nach innen Einheit, nach außen Frieden“. Denn die Stadt war in ihrer Geschichte häufig von Feinden bedroht – so wie es Kulturinstitutionen wie Musikschulen1 oder Orchester2 durch Sparzwänge der öffentlichen Hand in jüngster Zeit wieder sind. Mit der Stadtbefestigung hat sich Lübeck über Jahrhunderte erfolgreich gegen Feinde geschützt; mit dieser Inschrift wurde nach innen wie nach außen Zusammenhalt und Stärke demonst­riert. Wäre es nicht auch für Musikschulen und Orchester eine Chance, gemeinsam Einheit nach außen zu demonstrieren? Eine Einheit, die durch die Liebe zur Musik und den unbedingten Willen getragen wird, sie möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen? Eine Einheit, die auch kleinere, möglicherweise privat organisierte musikalische Angebote mit einbezieht?

Eine Zeit der Einsparungen im Kulturbereich

Es ist Anfang September 2023, als ich im Südkurier lese, dass die kommunalen Zuschüsse der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz massiv zurückgefahren werden sollen,3 was gleichzeitig eine Kürzung der Landessubventionen zur Folge hätte, ergo einer Schließung des Klangkörpers in seiner jetzigen Form gleichkäme.4 Wenige Stunden später erhalte ich eine E-Mail: ob ich Zeit hätte, an einer Podiumsdiskussion über die Zukunft des Orchesters teilzunehmen. Natürlich sage ich zu, denn dies ist auch das Orchester, dessen Konzerte ich mit meinen Schülerinnen und Schülern besuche und wo Freunde ihren Arbeitsplatz haben.
Es erreichen mich Anrufe von Orchestermitgliedern: Man befürchte, durch das gemeinsame Dach, das seit einiger Zeit mit der Musikschule besteht, zum Unterrichten gezwungen zu werden! Zum Unterrichten gezwungen!? Mir stockt der Atem. Ich selbst habe meinen Arbeitsplatz in einem professionellen Opern- und Sinfonieorchester gegen das Unterrichten getauscht und bin mit diesem Schritt nach wie vor überglücklich. Trotzdem unterstütze ich gerne die Anliegen der Orchestermitglieder. Denn wo kämen wir hin, wenn Schülerinnen und Schülern von Lehrkräften Musikunterricht erhielten, die zu ihrer Arbeit gezwungen wurden, statt leidenschaftlich mit Kindern und Jugendlichen die Welt der Musik zu entdecken!?

Unverzichtbarer „kultureller Nahversorger“

Die Podiumsdiskussion verläuft harmonisch: Beat Fehlmann als ehemaliger Intendant der Südwestdeutschen Philharmonie und Shootingstar der Intendantenszene, Chefdirigent Gabriel Venzago und ich sitzen auf der Bühne des historischen Kons­tanzer Konzilgebäudes mit seiner herrlichen Aussicht auf den Bodensee. Marc Grandmontagne als Kulturberater und ehemaliger Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins sowie Birgit Schneider-Bönninger, Sport- und Kulturdezernentin der Stadt Bonn, sind virtuell zugeschaltet.
Wir sind uns alle ohnehin mehr als einig, dass der Bodenseeraum einen „kulturellen Nahversorger“ braucht. Konstanz wird kurzerhand zum „Kulturschutzgebiet“ erklärt. Das Publikum jubelt, der Konstanzer Bürgermeister für Soziales, Bildung und Kultur als einzige Opposition im Saal macht zerknirscht schwammige Zugeständnisse. Wenige Wochen später versprechen die Verantwortlichen der Stadt Konstanz, die angekündigten Sparmaßnahmen zurückzunehmen.
Mission accomplished? Nein! Denn klar ist, dass irgendwoher mehr zahlendes Publikum kommen muss! Die junge Generation findet auch in Konstanz immer schwerer ihren Weg in die Klassik-Konzerte. Mit einigen Street- und Kulturfestivals hat sich eine Art Gegenbewegung zu unserem „kulturellen Nahversorger“ formiert, deren Fans kaum einen Fuß in die Konzerte der Südwestdeutschen Philharmonie setzen.

Vereint stehen wir, getrennt fallen wir5

Was aber, wenn es in der Stadt ein „Haus der Musik“ gäbe? Ein großes Zentrum, in dem die Philharmonie, die Musikschule, Kulturvereine, Chöre und private Bands ein gemeinsames Zuhause fänden? Ein Haus mitten in der Stadt, in dem sich ein großer Teil des musikalisch-kulturellen Lebens abspielen würde? Wo Menschen, deren gemeinsames Interesse die Liebe zur Musik ist, den Ort fänden, der sie vereint?
Vermutlich wäre dieses Vorhaben für die Stadt Konstanz mit ihrem eingeschränkten Platzangebot für Neubauten – bedingt durch die natürlichen geografischen Einschränkungen mit Bodensee und Rhein auf der einen, der Schweizer Grenze auf der anderen Seite – ein aussichtsloses Unterfangen. Auch an eine Finanzierung eines solchen Zentrums mag ich hier gar nicht denken. Aber andere Orte, an denen professionelle Klangkörper eine eigene Musikschule betreiben6 oder eng verzahnt mit bestehenden (Musik-)Schulen zusammenarbeiten;7 an denen es bereits ein Haus der Musik für alle Musikbegeisterten der Re­gion gibt;8 diese Orte zeigen, welch enorme Chance in dieser Symbiose liegt: Vergleichbar dem Geschehen auf einer Skipiste, wo die Wintersport-Neulinge, angespornt durch die Schwarze-Pisten-Profis, den Wunsch verspüren, diesen Vorbildern nachzueifern, Skirennen besuchen und sich auch in anderen Disziplinen wie beispielsweise dem Snowboarden und Schneeschuhwandern ausprobieren, könnte in einem musikalisch-kulturellen Zentrum einer Stadt ein vielfältiger, inspirierender und vor allem viel sichtbarerer Kosmos der Musik entstehen, der deutlich niedrigschwelligere Vernetzungsmöglichkeiten für alle Menschen bietet.

Unrealistische Vorstellung oder realisierbare Vision?

Schon während des Schreibens dieser Zeilen höre ich kritische Stimmen: utopisch! Geht nicht, weil… Vor 150 Jahren gab es auch noch keine Autos und die Idee, dass sich flächendeckend und verpflichtend alle jungen Menschen in Schulen Bildung erarbeiten sollten, wurde noch vor 350 Jahren mit einem Kopfschütteln abgetan! Vor den 1980er Jahren besaß praktisch keine Privatperson einen Computer und erst Mitte der 1990er Jahre wurden Handys salonfähig. Heute sprechen schon die Generationen Z und Alpha von ihrem Grundrecht auf Internetzugang und die Europäische Union hat bereits Studien hierzu in Auftrag gegeben.9 Warum sollte es also nicht gelingen, in einer Zeit, in der wir uns mit Ideen derart gut vernetzen können, ein Zentrum auf die Beine zu stellen, in dem alle Menschen die Möglichkeit haben, sich musikalisch auszuleben? Ein Zentrum mit Konzertsälen, die für verschiedene Bedürfnisse ausgelegt sind, und mit Übe- und Proberäumen, die durch große Glasfronten auch PassantInnen von außen einen Einblick in das Innere ermöglichen.

Treffpunkt: Musikzentrum mit gelebter Diversität

Selbst Übe- und Probensituationen könnten den Mitwirkenden eine Bühne bieten und gleichermaßen eine Inspiration für Außenstehende sein. Die Übe- und Proberäume könnten intern über eine App vergeben werden, die bestimmte Filter vorschaltet, damit beispielsweise der regelmäßige Platzbedarf für den Musikunterricht oder Übe­zimmer für Orchestermitglieder gewährleistet sind. Das städtische Blasorchester, das privat organisierte Eltern-Kind-Singen, der Chor der Kirchengemeinde, das einst in Privaträumen probende Bag˘lama-Ensemble und auch die Privatmusiklehrkraft könnten diese Räumlichkeiten ebenfalls für ihre Bedürfnisse nutzen. In abschließbaren Depots oder Spinds könnte man private Instrumente oder Technikequipment lagern, eine Grundausstattung wäre in den Räumen bereits vorhanden. Die teilweise digitale Noten- und Musikbuchbibliothek ermöglicht einfaches und nachhaltiges Teilen von Noten und Büchern und eröffnet Einblicke in neueste Werke. Nur noch eine einzige Webseite bildet alle Angebote auf übersichtliche Weise ab, was es für die kulturell Interessierten einfacher macht, sich einen Überblick zu verschaffen und auf diese Art auch Dinge zu entdecken, die ihnen sonst möglicherweise entgangen wären.
In einigen, nach dem digitalen Einchecken offenen Räumen stehen Silent-Instrumente zur Verfügung und bieten die Möglichkeit, sich im Jam-Space an Silent-Bandinstrumente wie Gitarre, E-Piano oder Schlagzeug auszuprobieren, sich spontan oder geplant mit anderen zusammenzufinden. Der Open-Piano-Practice-Room bietet mehrere Silent-Pianos in einem Raum, an denen auch diejenigen üben können, die kein Klavier zuhause haben, oder die ihre Warte- und Pausenzeiten sinnvoll verbringen wollen.10 Über die App des Hauses kann vielleicht spontan noch eine Lektion Klavierunterricht gebucht werden, den eine Klavierlehrkraft dort gerade als freies Zeitfenster eingestellt hat.
Die in das Haus integrierten Open-Work-Spaces, das Café und die Mensa bieten Vernetzung und Austausch. Kurze Wege und das Erleben anderer Musikbegeisterter schaffen einen Musikkosmos – ähnlich einer Social-Media-Plattform im Real Life: Andere Menschen zu erleben, aber auch selbst zum Impulsgeber zu werden, wäre in solch einem Zentrum möglich.11

Aber wer zahlt die Rechnung?

Natürlich entstehen durch solch ein Zent­rum Kosten. Doch wiegen die Vorteile für die Menschen der Region nicht langfristig diese Investitionen auf? All diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich bei der Podiumsdiskussion auf der Bühne des im späten 14. Jahrhundert als Kornspeicher für die Konstanzer gebauten Konzils sitze. Ein Haus, das auch heute noch steht und Menschen in seinen Bann zieht; das mutige und visionär denkende Bürger vor über 600 Jahren konzipiert und erbaut haben! Vielleicht ist es an der Zeit, jetzt den Schritt zu wagen, von dem noch Generationen nach uns profitieren: nämlich die Menschen mit der Liebe zur Musik zu vereinen – in einem Haus, in einem Musikzentrum, unter einem Dach. Damit dort Gutes entstehen kann: Verbindung, Vernetzung, Verständnis für andere. Und damit in Gedanken über der Eingangstür zu diesem Zentrum der Musik die Worte stehen, die das Lübecker Holstentor seit Jahrhunderten zieren: Concordia Domi Foris Pax!

1 Als Beispiel möchte ich die Musikschule Winsen/ Luhe (Niedersachsen) anführen, die schon zu der Zeit, als ich dort Trompete und Klavier lernen durfte, mit extremen Sparzwängen der öffentlichen Hand belegt war und auch derzeit wieder strukturell unterfinanziert ist. www.winsener-anzeiger.de/lokales/605433-musikschule-winsen-kaempft-ums-finanzielle-ueberleben-stadt-gespraechsbereit (Stand: 30.4.2024).
2 Am Theater Lüneburg stand die Musiksparte mit den Lüneburger Symphonikern 2023 kurz vor dem Aus. www.ndr.de/kultur/musik/klassik/Lueneburger-Symphoniker-Selbstbewusst-in-schwierigen-Zeiten,lueneburg1656.html (Stand: 30.4.2024). Nur durch großes Engagement der deutschen Musiker- und Orchestervereinigung unisono sowie der Musikerinnen und Musiker vor Ort konnte eine Schließung zumindest vorerst abgewendet werden. https://uni-sono.org/projekte-kampagnen/orchesterherzlueneburg (Stand: 30.4.2024).
3 www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/20-prozent-streichkonzert-droht-so-kaempft-die-philharmonie-um-eine-gnadenfrist;art372448,11718629 (Stand: 30.4.2024).
4 In diesem Beitrag aus dem Südkurier (Bezahlschranke) werden mögliche Folgen einer zwanzigprozentigen Kürzung der Subventionen für das Theater Konstanz und die Südwestdeutsche Philharmonie diskutiert. www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/zittern-vor-dem-spar-herbst-die-konstanzer-kultur-kaempft-ums-ueberleben;art372448,11726169 (Stand: 30.4.2024).
5 Dieses Sprichwort wird dem griechischen Dichter Aesop (6. Jh. v. Chr.) zugeschrieben.
6 Wie etwa die Musikschule der Hofer Symphoniker: www.welt.de/regionales/muenchen/article13880777/Hofer-Symphoniker-Musikunterricht-bei-Profis.html (Stand: 30.4.2024).
7 Die räumliche Nähe der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und der Gesamtschule Bremen-Ost macht sogar international Schule: https://deutsches-schulportal.de/schule-im-umfeld/wenn-ein-weltklasse-orchester-in-eine-schule-einzieht (Stand: 30.4.2024).
8 Als Beispiel sei die Musikschule Waldkirch genannt, welche durch die Ideen von Andreas Doerne und Stefan Goeritz eine Transformation zum Haus der Musik erlebt hat. www.uebenundmusizieren.de/artikel/ein-ort-zum-ueben-und-musizieren (Stand: 30.4.2024).
9 www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2021/696170/EPRS_STU(2021)696170_DE.pdf (Stand: 30.4.2024).
10 zu den Ideen der offenen Musizierlandschaften siehe auch die Umsetzung der Musikschule Lahr mit dem Groove Lab: www.uebenundmusizieren.de/artikel/auf-die-methode-kommt-es-an (Stand: 30.4.2024) sowie die mit dem Musikschulpreis Baden-Württemberg gekürte GrooveWerkstatt der Musikschule Achern-Oberkirch: www.musikschulen-bw.de/aktuelles/erster-hergehoert-musikschulpreis-baden-wuerttemberg-geht-nach-achern-und-waghaeusel (Stand: 30.4.2024).
11 zur Idee, aus einer Musikschule ein „Haus der Musik“ zu machen, siehe: Doerne, Andreas: Musikschule neu erfinden. Ideen für ein Musizierlernhaus der Zukunft, Mainz 2019 sowie die Um­setzung an der Musikschule Waldkirch, allerdings ohne die explizite Anbindung an ein dort probendes Berufsorchester.

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