Widmaier, Martin

Zur Systemdynamik des Übens

Differenzielles Lernen am Klavier

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2016
erschienen in: üben & musizieren 6/2016 , Seite 49

Der vorliegende Band aus der Reihe „üben & musizieren – texte zur instrumentalpädagogik“ ist aus der Dissertation des Autors hervorgegangen und setzt Gedanken fort, die Martin Widmaier bereits in anderen Veröffentlichungen wie der Klavierschule Das kleine Land oder den 24 achttaktigen Etüden nach Frédéric Chopin entwickelt hat. Angeregt von Erkenntnissen aus der Sportwissenschaft (vor allem des Trainingswissenschaftlers Wolfgang Schöllhorn) stellt Widmaier in sehr kompakter Form seinen „systemdynamischen“ An­satz als Modell des Lernens und Übens am Klavier anderen Verfahrensweisen gegenüber, die in der musikalischen Praxis immer noch weit verbreitet sind.
Zwei Dinge bilden die Grundlage dieses Konzepts: erstens das heutige Wissen darüber, dass Bewegungen grundsätzlich individuell und nicht wiederholbar sind, und zweitens die Beobachtung des von außen ganz ungeregelt anmutenden Verhaltens von Kleinkindern – der erfolgreichsten Lernstrategie, die wir kennen. Nicht die Wiederholung von Gleichem (bzw. von dem, was man dafür hält), sondern das bewusste Erproben von Unterschieden, das „Abtasten der Randbereiche zum Erschließen des gesamten Lösungsraumes“ und das „sinnvolle Verstärken des in allen Lernphasen ohnehin auftretenden Rauschens“ initiieren die „Selbstorganisation“ der am Lernprozess beteiligten Komponenten.
An die Stelle eines traditionell hierarchisch und zielgerichtet ­organisierten Lernprozesses, in dem die Kategorien „falsch“ und „richtig“ eine dominierende Rolle spielen und die angestrebten Fertigkeiten ziemlich eng umgrenzt sind, tritt die Erfahrung, dass alle Teile eines lernenden Systems miteinander vernetzt sind und der Lernende durch geeignete Aufgabenstellungen dieses Gefüge so aktivieren und nutzen kann, dass er schließlich mehr lernt, als nur das Stück, welches er gerade studiert. Vor allem steigt dabei die Fähigkeit zur Anpassung an unerwartete und neue Situationen, was für MusikerInnen essenziell ist.
Neben der theoretischen Begründung seines Modells beschreibt Martin Widmaier vielfältige praktische Arbeitsformen. Ein protokollierter Selbstversuch bestätigt, dass auf solche Weise auch bei Verzicht auf angeblich absichernde Einschleifvorgänge und sogar mit verhältnismäßig begrenztem zeitlichen Aufwand  ein sicheres Erlernen und überzeugendes Darbieten einer Komposition möglich ist.
Der umfangreichste Teil dieses Buchs enthält eine „historische Spurensuche“. In überaus erhellenden Kapiteln über Lehrmaterialien von Johann Hummel, Stephen Heller, Carl Eschmann-Dumur, August Halm, Georg Roth und Günther Philipp erfährt man, dass sich unterschiedliche systemdynamische Übestrategien durchaus schon in der vorhandenen Literatur für Klavier und über das Klavierspiel finden lassen. Besonders anregend ist die Fingersatzsystematik für Tonleitern im Kapitel über Eschmann-Dumur, die erfahrungsgemäß vielen Klavierspielern gar nicht präsent ist und natürlich zum sofortigen Ausprobieren lockt.
Ganz nebenbei gelingt es dem Verfasser, in den beiden Kapiteln zur „Geografie des Übens“ eine veritable Lehre des Klavierspiels und der Erarbeitung von Musik zu entwickeln. Überall im vorliegenden Band werden außerdem jeweils noch spezielle Arbeitsweisen für Kinder beschrieben. Trotz des begrenzten Raums, der eine gewisse Dichte erforderte, wurde die sehr komplexe Thematik in eine schlanke und übersichtliche Form gebracht. Alle Kapitel sind auch einzeln gut lesbar, ganz im Sinn der System­dynamik bringt auch Querlesen und Springen zwischen den Kapiteln Gewinn. Die Sprache ist klar und nicht ohne Humor. Ausführliche Anmerkungen, das Verzeichnis der verwendeten Literatur und ein Register erhöhen den Wert für die Benutzer.
Fazit: (Auch) Üben ist Musizieren und dieses Musizieren hat viele Gesichter. Martin Widmaier veranlasst in diesem Buch nicht nur PianistInnen und KlavierpädagogInnen, ihre Tätigkeit neu zu überdenken.
Linde Großmann