© Paul R. Johnson

Spanhove, Bart

Himmlische Sprache

Wie man Musik erzählen kann

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2017 , Seite 06

Ohne Musik könnten wir nicht leben. Musik ist Kommunikation und gehört somit zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Musik ist eine himmlische Sprache, die niemanden unberührt lässt. Sie ist mächtig, und wie die Sprache kann sie rühren und bewegen. Der niederländische Sänger Herman van Veen hat das sehr treffend zum Ausdruck gebracht: “Wenn ich traurig bin, höre ich Musik und werde fröhlich. Wenn ich fröhlich bin, höre ich Musik und werde traurig.”

Für diesen Artikel stütze ich mich auf 30 Jahre Konzert- und Unterrichtspraxis sowie auf einige bekannte Schriften aus dem Barock. Doch wie präzise die Aufführungspraxis in den Lehrwerken des 18. Jahrhunderts auch beschrieben wird: Das Sprechen über Musik bleibt subjektiv. Ich hoffe, mit meinem kreativen Streifzug durch Sprache und Musik Ihre Neugier erregen zu können.

Die musikalische Rhetorik ist der einzig gültige Zugangsschlüssel für alle Musik von Josquin bis Bach. (Philippe Herreweghe)

Musik als Klangrede

Barockmusik ist Sprache: Sie hat Bedeutung und Funktion, sie teilt etwas mit. Die Techniken, mit denen sie sich verständlich macht, beruhen auf der Rhetorik. Die Barockmusik hat zahlreiche Dialekte, wobei die größten Unterschiede zwischen dem französischen und dem italienischen Stil bestehen: Die Tonsprache eines Couperin, Lully oder Rameau ist mit der eines Vivaldi, Corelli oder Tartini kaum zu vergleichen. Im 18. Jahrhundert ist Musik eine Sprache mit nicht zu leugnender Macht, die die Gemüter berührt und erschüttert – „musica movet affectus“.
Sprache wie auch Musik sind nur verständlich, wenn man ihre Zeichen, Ausdrücke und Figuren versteht. Es ist immer wieder interessant, wie unterschiedlich Interpreten ein und denselben Notentext zum Leben erwecken: Auf zehn verschiedenen CD-Einspielungen hört man zehn verschiedene Interpretationen – obwohl die Partitur doch dieselbe ist! Dieses Phänomen kennt man auch von der Sprache: Wir lesen, hören und sehen bei einem Text dieselbe Information, und doch versteht jeder etwas anderes. Es entstehen unterschiedliche, manchmal sogar widersprüch­liche Auffassungen, Interpretationen und Vorstellungen. Spontan muss ich an einige Bach-Schüler denken, die so unterschiedlich waren, obwohl sie doch denselben Lehrer hatten: der trockene Kirnberger, der geniale Krebs, der unberechenbare Müthel, der tiefgründige Carl Philipp Emanuel Bach, der harmonische Homilius.
Barockmusik ist von der Sprache inspiriert, vor allem von der Rhetorik, der Kunst der Rede. Rhetorik ist eine Technik der Verführung: Nicht nur das, was man sagt, sondern vor allem die Art und Weise, wie man etwas ausdrückt, verleiht unseren Worten Überzeugungskraft. Es reicht nicht, 200 rhetorische Figuren auswendig zu können, um Musik verständlich und überzeugend zu gestalten. Im Gegenteil: Viel wichtiger ist es, sich zu fragen, wie man eigentlich kommuniziert. Welche Bedeutung und Aussagekraft kennzeichnet eine bestimmte Figur? Was macht Musik mitreißend? Welche Bilder, Gefühle und Regungen rufen bestimmte Stellen hervor?
Die Rhetorik hilft uns, tiefere Einblicke zu gewinnen und ein besseres Gespür für den Notentext zu entwickeln. Sie ist in der Antike entstanden, Cicero wurde einer ihrer wichtigsten und eindrucksvollsten Lehrmeister. Musik zu interpretieren ist für jeden eine Herausforderung; beim Sprechen verleihen wir den Wörtern, bewusst oder intuitiv, jedoch ganz selbstverständlich Bedeutung und Inhalt. Unsere emotionale Botschaft übermitteln wir durch Betonung, Rhythmus und Dynamik, durch die Artikulation und nicht zuletzt unsere Körpersprache. Frans Brüggen sagte einmal, jeder Takt und jede einzelne Figur (in der Musik von Telemann) habe eine eigene Bedeutung. Die kreative Suche nach dieser verborgenen Botschaft motiviert mich jeden Tag aufs Neue. Vorstellungsvermögen und Fantasie sind dabei das Wichtigste. Musik ist eine so ausdrucksvolle Sprache, dass ich ungehindert mit Musikerinnen und Musikern aus Japan oder Amerika spielen kann.
Johann Joachim Quantz schreibt, der Vortrag von Musik müsse verständlich, rein, deutlich, rund, vollständig (das heißt technisch richtig), leicht und fließend sein sowie Licht und Schatten aufweisen. Der Spieler müsse den musikalischen Gedanken vermitteln, Ver­zierungen ergänzen, sauber intonieren und klanglich ausbalanciert musizieren, sein Ausdruck müsse zu den dargestellten Leidenschaften passen. Eigentlich übernimmt Quantz hier Johann Christoph Gottscheds Gedanken aus den Vorübungen der Beredsamkeit. Dort erklärt der Autor, ein guter Redner müsse eine helle, klare und gleichmäßige Stimme sowie eine deutliche Aussprache ­haben, für angenehme Abwechslung sorgen, außerdem keine eigenartigen Bewegungen machen oder Grimassen schneiden sowie ­jede Regung und Anspielung zum Ausdruck bringen können. Der Aufbau einer Rede folgt den Regeln der klassischen Rhetorik:
– Inhalt: Darstellung des Themas (inventio)
– Struktur: Gliederung der Sinneinheiten (dis­positio)
– Gestaltung: Ausdrucksweise und stilistische Ausarbeitung (elocutio)
– Aneignung: Einstudierung des Textes (memoria)
– Vortrag: Empfehlungen für einen gelungenen öffentlichen Auftritt (actio).
Dieser rhetorische Fünf-Punkte-Plan lässt sich auf die Ausführung von Musik übertragen: Die Spielerin oder der Spieler entwickelt eine Vorstellung von der musikalischen Idee, erstellt einen Plan, befasst sich mit der Struktur des Werks, gestaltet das Ganze so interessant wie möglich und führt die Komposition schließlich auf.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2017.