Beek, Johan van

Klangrede am Klavier

Aufführungspraxis im 18. und 19. Jahrhundert

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2016
erschienen in: üben & musizieren 3/2017 , Seite 52

Von den vielfältigen Themenfeldern einer historisch orientierten Aufführungspraxis konzent­riert sich Johan van Beek in seinem Buch hauptsächlich auf den Aspekt der Agogik, also auf die flexible, musikalisch sinnvolle Zeitgestaltung. Agogik meint für ihn nicht nur das Abweichen vom Grundtempo, sondern auch etwa die sprechende Zeitgestaltung von Verzierungen und das Liegenlassen bestimmter Töne über den notierten Wert hinaus. Die acht Kapitel tragen folgende Überschriften: „Inégalité“, „Das gebundene Tempo rubato“, „Das Legato durch ‚Über‘-Bindung“, „Das ‚ungedämpfte Register‘“, „Der Legato-Anschlag“, „Gedanken zur Ornamentik“, „Die Hemiole“, „Das Rezitativ in der Sonate op. 110 von Ludwig van Beethoven“.
Der Autor erörtert die genannten Themen an vielen Beispielen aus Klavierwerken von Bach bis Bartók. Dabei leitet er die Gestaltungsprinzipien stets aus den Strukturen der Notentexte ab und lehrt, diese in ihren schriftlich kaum fixierbaren Intentionen zu verstehen. Van Beek vertritt und begründet die Auffassung, „dass Agogik nicht eine Freiheit ist, die man sich erlaubt, sondern das Ergebnis eines Erkennens höherer Gesetze, die man streng befolgt“.
Viele Ausführungen zu den Aspekten der Zeitgestaltung sind auch für Nicht-PianistInnen aufschlussreich. Speziellen Möglichkeiten des Klaviers widmen sich die beiden Kapitel über einen stilistisch fundierten, vom heutigen „Dauerpedalschwamm-Klavierspiel“ stark abweichenden Pedalgebrauch und die Möglichkeiten eines singenden Legato-Anschlags. Hier greift van Beek auf die profunden Erkenntnisse des englischen Pianisten und Klavierpädagogen Tobias Mattay zurück.
Die Lektüre verschafft aufschluss­reiche Einsichten in Strukturen, Idiomatik und Gestaltungsprinzipien des Klavierrepertoires vom Barock bis zur Romantik. Erhellend sind strukturelle Reduktionen auf Gerüstsätze, durch die die musikalischen Grundverhältnisse wahrnehmbar werden.
Einige Kritikpunkte schmälern die Qualität des Buchs gering­fügig. Über manche der vorgeschlagenen Realisierungen wäre sicher kontrovers zu diskutieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine frei schwankende Ausführung der Begleitbewegung im langsamen Satz von Beethovens Sonate op. 24 würde der agogisch frei zu gestaltenden Singstimme kaum Widerpart bieten. Manche Aussagen befremden. Etwa: „Der Agogik in der Klangrede entspricht die Deklamation in der Wortrede.“ Deklamation umfasst erheblich mehr als die zeitliche Gestaltung des Gesprochenen.
Im Vorwort gehen die Begriffe Metrum, Takt und Tempo durcheinander. Agogik ist Tempo- und Rhythmusmodifikation, äußert sich aber nicht in „Abweichungen vom Metrum“. Ein Metrum bleibt auch bei agogischer Fle­xibilität erhalten. Unerfindlich bleibt, weshalb van Beek auf die Einbeziehung wichtiger Quellen wie Czernys Lehre Von dem Vortrage oder Hummels großer Klavierschule verzichtet.
Ulrich Mahlert