Frei, Marco

Brücken schlagen zwischen Menschen

Wie das Projekt „Umculo“ in Südafrika versucht, die soziale Spaltung des Landes zu überwinden

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2017 , Seite 40

Sie sind noch Wirklichkeit, die Townships in Südafrika. Das Apartheid-System hatte sie erfunden, um die schwarze Bevölkerung konzentriert auszugrenzen – riesige Siedlungen, manche zählen Abermillionen Bewohner. Heute stehen sie für eine faktische Kontinuität der südafrikanischen Gesellschaft. Noch immer ist Südafrika ein sozial gespaltenes Land, und die Fußball-Weltmeisterschaft von 2010 hat nur wenig daran geändert. Weiterhin lebt die schwarze und weiße Bevölkerung kaum miteinander, sondern bestenfalls nebeneinander. Das Gros der schwarzen Bevölkerung, die ethnische Mehrheit im Land, ist weiterhin benachteiligt oder gar ausgegrenzt. Bis heute bilden „Coloureds“, Farbige also, eine Art Pufferzone.
Hier setzt „Umculo“, vormals „Cape Festival“, an. Von der in Südafrika geborenen und in Berlin lebenden Musikjournalistin Shirley Ap­thorp 2009 gegründet, möchte dieses Projekt einen sozialen Wandel durch Musik bewirken und gleichzeitig auf die höchst reichhaltige Vokaltradition in Südafrika aufmerksam machen. Dafür geht man in die Townships. Als Vorbild fungierte einst das venezolanische „El Sistema“; allerdings mit dem gewaltigen Unterschied, dass „Umculo“ politisch unabhängig ist und die soziale Musikvermittlung absolut ernst meint: eben keine Geld- und Karrieremaschinerie. Sponsoren geben Geld für die Realisierung der Projekte, die Aufführungen kosten keinen Eintritt und alle verzichten auf Lohn oder Gagen.
Ein großes Ereignis war zuletzt die Aufführung von Mozarts Oper Le nozze di Figaro in Jouberton, einer Township bei Klerksdorp, 170 Kilometer südwestlich von Johannesburg. Aus dieser Gegend stammt der schwarze Priester und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu. Jazz-Trompeter Miles Davis hatte ihm 1986 ein gewichtiges Album gewidmet. Das Festival „Umculo“ hatte die Figaro-Opernproduktion mit der Northwest University in Potchefstroom realisiert: ohne Orchester, aber mit jungen schwarzen SängerInnen und Klavierbegleitung. Von den jungen Solisten und Choristen aus Südafrika könnten manche HochschulprofessorInnen und Musikstudierenden hierzulande viel lernen, denn: In Jouberton war eine frische Ereignisdichte in Spiel und Gesang zu erleben, die man in Hochschulaufführungen bei uns oft vermisst. Einnehmende Natürlichkeit und intuitive Stilsicherheit: Das war weit entfernt von abgebrühter Routine.
Dabei profitierten sie alle auch von der Regie von Robert Lehmeier, die einmal mehr den Blick auf die Gesellschaft schärfte und zur befreiten Bühnenaktion animierte. Aus seiner Feder stammten überdies die Dialoge, die die Rezitative ersetzten. Mozarts Figaro ist das vierte Projekt, das „Umculo“ mit Lehmeier stemmte. Zuvor hatte er 2015 die Uraufführung von Comfort Ye realisiert – mit Musik der Australierin Cathy Milliken und von Georg Friedrich Händel. Für dieses Projekt ist „Umculo“ mit europäischen Preisen ausgezeichnet worden.
Für „Umculo“ ist Lehmeier ein absoluter Glücks­fall, zumal seine moderne Ästhetik weit entfernt ist von der vorherrschenden Bühnen­realität in Südafrika. Selbst die Cape Town Opera, das führende Haus des Landes, kultiviert mehr einen konservierenden Historismus – eine Haltung, die stark von den USA geprägt ist. Durch die Arbeit mit Lehmeier erfahren die StudentInnen, wie es auch anders geht. In seinem südafrikanischen Figaro schärfte Lehmeier den Blick auf eine Klassengesellschaft, die Mozart von innen heraus aufbricht – durch Liebe und Liebelei.
Das spiegelt die gesellschaftliche Realität in Südafrika wider, gerade weil das Land noch immer gespalten erscheint. Überdies wird Sexualität weitgehend tabuisiert, trotz einer vergleichsweise liberalen Verfassung, die auch Homosexuellen weitreichende Rechte einräumt. Lehmeiers Figaro trifft also mitten ins Mark der südafrikanischen Gesellschaft. Und sobald es auf der Bühne etwas körper­licher zuging, wurde nicht getuschelt, sondern lautstark gegrölt. Besonders ausgeprägt war die Irritation, wenn die androgyne Hosenrolle Cherubino durch die Szene stolperte – eine Frau, die lustvoll andere Frauen befummelt.
Sonst aber verfolgt das Publikum die Aufführung aufmerksam, zumal Lehmeier seinen ­Figaro mit zahlreichen Anspielungen auf die gegenwärtige Politik in Südafrika würzte. So wird Cherubino nicht nach Sevilla geschickt, sondern auf das Anwesen des amtierenden Staatspräsidenten Zuma in Nkandla. Dort wirkt Cherubino als Feuerwehrmann: weil Zuma das Schwimmbecken im Garten seines Palasts als Löschteich deklariert hatte, um staatliche Fördermittel einzusacken. Treffen sich bei Mozart die Liebenden wiederum heimlich „unter den Pinien“, so wird hier daraus „Mr. Chips“. Das sind Läden in den Townships, in denen bis spät in die Nacht Snacks verkauft werden. Bei diesem Figaro sollte eben zielgenau eine persönliche Relevanz und Identifikation mit dem Stoff hergestellt werden, was gleich zu Beginn Marcellina deutlich machte. Sie kann und will nicht einsehen, dass Figaro sie nicht nur sitzenließ, sondern Mozart ihn auch noch verewigte. Aus ihrer Sicht müsste dessen Oper eigentlich „Die Hochzeit der Marcellina“ heißen. „It’s about me!“, ruft sie aus, und ebendies ist gesellschaftlich hochexplosiv – jedenfalls hier und jetzt, an diesem Ort, in der Township Jouberton.
Im November und Dezember 2017 steht das nächste große Projekt von „Umculo“ an: eine szenische Johannespassion von Bach in und um Johannesburg, inszeniert von Kobie van Rensburg. Dabei kommen verschiedene Chöre unterschiedlicher Communities aus differierenden sozialen Schichten zusammen, aus der weißen und schwarzen Bevölkerung, um soziale Brücken zu schlagen. Lehmeier inszeniert hingegen 2018 eine Uraufführung, und wer dieses höchst verdienstvolle Festival unterstützen und fördern will, ist ganz herzlich willkommen. Es lohnt sich auf jeden Fall, weil bei „Umculo“ die Welt tatsächlich ein Stück weit verbessert wird.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2017.