© Burkhard Friedrich

Friedrich, Burkhard

Hör|Welten – Spiel|Weisen

Anleitung zur Wahrnehmung des Unscheinbaren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2017 , Seite 12

Widmen wir uns der experimentellen Klangarbeit, so kommen wir nicht umhin, uns den ­eigenen Wahrneh­mungsgewohnheiten zuzuwenden. Wir sind unterwegs auf Rolltreppen, Fahrstühlen, mit Autos, Bahnen und zu Fuß, nehmen die Klang­welten, durch die wir uns ­hindurchbewegen, als gegeben und selbstverständlich hin, aber nicht unbedingt wahr. In ­diesem Artikel geht es um die unerhörten und ungehörten Klänge unseres täglichen Seins und deren Trans­formation ins Künstlerische, kurz: um das Sehen-Lernen mit den Ohren.

Wir betreten Räume in der Regel mit der Absicht, dort einer funktionalen Tätigkeit nachzugehen. Selbst Aufenthalte in der Natur sind nicht unbedingt vom forschenden Hören geprägt, sondern von dem Wunsch nach Entspannung und Ruhe. Wie wir merken, lauert überall um uns herum die Funktionalisierung und das zielgerichtete Handeln. Mit dem Sehen verhält es sich zuweilen etwas anders: Das Betrachten eines Kunstwerks kann in uns eine unmittelbare, absichtslose künstlerische Inspiration und/oder Reaktion erzeugen, während das Hören von Musik stark von Absichten geprägt ist. Deswegen appellieren KomponistInnen des 21. Jahrhunderts an den mündigen Hörer und dessen erwartungslose Neugierde, mit der ihre Werke gehört werden sollen. Wir bewegen uns demnach eher in Seh- und Klang-Welten als in Hör-Welten.
Das innere Erkennen und Begreifen der äußeren klanglichen Strukturen, von denen wir tagtäglich umgeben sind, ermöglicht es uns, das Geräusch als künstlerisches, wenn nicht gar musikalisches Ereignis wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang sind Selbstversuche zu empfehlen: absichtslose Fahrten in einem öffentlichen Verkehrsmittel, in einem Fahrstuhl oder Innehalten an einem Ort, dem man gerne zuhört. Voraussetzung: Es dürfen keine beabsichtigten Klänge wie beispielsweise Musik, Gespräche etc. zu hören sein, der Aufenthalt ist absichtslos, also prozess-, nicht ergebnisorientiert. Um die Klangsituationen anschließend zu reflektieren, rate ich zur Audioaufnahme; oft werden Klangereignisse auf der Aufnahme gehört, die live nicht wahrgenommen wurden.
Nicht ganz unbedeutend ist die Tatsache, dass uns diese Klänge zwar bekannt, jedoch nicht vertraut sind, obwohl sie unser tägliches Dasein möblieren: Der Schrank erscheint vertraut, aber seine Strukturen, Oberflächen, Farbschattierungen und Klangeigenschaften kennen wir nicht. Dennoch ist unser tägliches Leben, wenn auch unbewusst, von den auf uns einströmenden Klängen, wie beispielsweise dem Öffnen des Schranks, geprägt. Das hat der Künstler Luigi Russolo (1885-1974) bereits zur Jahrhundertwende festgestellt: „Heute triumphiert das Geräusch und beherrscht unumschränkt die Empfindung der Menschen.“1

Geräusch als Ereignis

Der Komponist John Cage konkretisiert diese Erkenntnis: „Wherever we are, what we hear is mostly noise. When we ignore it, it disturbs us. When we listen to it, we find it fascinating. The sound of a truck at fifty miles per hour. Static between the stations. Rain. We want to capture and control these sounds, to use them not as sound effects but as musical instruments.“2
Geräusche (= Klänge) gelten für uns primär nicht als künstlerische Ereignisse, sondern als selbstverständliche akustische Phänomene unseres Daseins, die es nun gilt, näher zu untersuchen. Der Komponist Helmut Lachenmann bemerkt dazu: „Entdecken heißt aber nicht nur, auf Bekanntes stoßen, sondern auch: bereits Vertrautes in verändertem Licht, gar vielleicht als Fremdgewordenes neu erfahren.“3 Dieses Neu-Erfahren ist es, was den Geist erfrischt und neugierig macht, nicht nur bei uns selbst als Anleitende, sondern auch bei SchülerInnen und Studierenden. Ein Beispiel: Abbildung 1 zeigt eine Partitur einer akustischen Szene (Soundscape) im Frühstücksraum eines Hotels, die, wenn die ursprünglichen Quellen nicht genannt werden, als grafische Partitur von einem Ensemble umgesetzt werden kann.


Da es sich bei unserem Forschungsgegenstand ausschließlich um Inhalte neuer und experimenteller Klanggestaltung handelt, braucht es anfangs auch eine experimentelle Didaktik,4 damit Lern- und Lehrprozesse, die neue und experimentelle Musik zum Inhalt haben, auch entsprechend flexibel in Gang gesetzt und eine gewisse Unvorhersehbarkeit des Unterrichtsgeschehens berücksichtigt werden kann.
Somit richtet sich dieser Artikel an Lehrende, die mit Mut und Lust am Experimentieren ihre Vermittlungsarbeit gestalten und erkennen, „dass die Mittel, mit denen klanglich geforscht, gestaltet, experimentiert und komponiert wird, in jeder Konzeptumsetzung neu definiert werden müssen. Die Rückhaltlosigkeit des Komponierens besteht darin, dass die Normen, die Kriterien für Entscheidungen, die Mittel und Techniken, mit denen die Komposition gestaltet wird, erst noch gefunden werden müssen – möglicherweise parallel zum Anliegen, das während des Kompositionsprozesses entsteht, sich auch verändert, mit wächst und mehr oder weniger klar und scharf gefasst oder gar formuliert ist. Aus ihm heraus können so etwas wie werk­eigene Normen und Techniken entstehen, die in gewisser Weise den Rückhalt des Komponierens bilden.“5

Experimentelle ­Didaktik

Experimentelle Didaktik entsteht aus den Inhalten, die sie vermittelt, und der Komplexität der Zielgruppen, an die sie sich wendet. Ähnlich wie beim Bau eines Hauses müssen wir uns im Klaren darüber werden, welche Materialien wir benutzen, welche Substanzen und welche Oberflächen, wir müssen die Statik prüfen und einen Rohbau entwerfen und das Handwerkszeug bestimmen, bevor wir ins künstlerische Detail gehen. Bei der Klangarbeit ist es nicht anders: Auf den Prozess des Erfahrens unserer alltäglichen akustischen Umgebung folgt das Erkennen dieser Klanglandschaften als Material und Katalog und schließlich die Anwendung und Umsetzung im Begreifen. Diesen Lernprozess setzen wir in folgender didaktischer Vorgehensweise um: Sensibilisierung > Exploration > Imitation > Improvisation > Gestaltung > Komposi­tion > Interpretation.
Jede vermittelnde Projektleitung sollte bestrebt sein, den TeilnehmerInnen nicht die eigenen Vorlieben zu vermitteln, sondern den eigenverantwortlichen Blick auf das klang­liche Material. Nur über diese Eigenverantwortung können individuelle und kollektive Identifikationsebenen zunächst mit dem Prozess, später mit dem Ergebnis entstehen, die für den Spaß an der Sache von zentraler Bedeutung sind. Die Vermittlung des eigenverantwortlichen Arbeitens in der experimentellen Klangarbeit nimmt deswegen einen zent­ralen Platz ein, weil sie weder über Referenzen noch über Voraussetzungen verfügt. Das unbekannte Gebiet der unscheinbaren Klänge muss erschlossen werden – das ist mühsam, der Gewinn allerdings lebensprägend: Achtsamkeit im Umgang miteinander und in der Wahrnehmung der Umgebung, Toleranz und Neugierde gegenüber den Ideen und Belangen anderer, Entdeckung und Anwendung der eigenen kreativen Kompetenzen, Sensibilisierung der Sinne, Stärkung der Konzentrationsfähigkeit, Förderung der ästhetischen Wahrnehmung und des differenzierten Blicks auf die Welt.
Anregen, nicht Beibringen lautet die Empfehlung: Je früher den SchülerInnen eher Fragen als Antworten zu den eigenen kreativen Prozessen, Ideen und dem Forschungsgegenstand vor dem Hintergrund eines spezifischen Arbeitsauftrags gestellt werden, desto eher beginnt das eigenverantwortliche Arbeiten Wurzeln zu schlagen. Die Kinder und Jugendlichen lernen, selbstständig Entscheidungen zu treffen, diese gegebenenfalls zu revidieren, Lösungen für Problemstellungen zu finden und gemeinsame Strategien für kreative Vorgehensweisen zu implementieren. Für diese Arbeitsweise jedoch braucht es eine strenge Lernform, in der die zentrale Regel lautet, alles Unbekannte zu erforschen und das Bekannte vorerst zu ignorieren. Der Gesteinsforscher, der den Auftrag hat, ein seltenes Gestein ins Labor zu bringen, entscheidet sich, wenn er neben einem solchen einen Klumpen Gold entdeckt, natürlich für das seltene Gestein. Deswegen sollten in den Aufnahmen unserer akustischen Umgebungen und im Materialkatalog keine Sprache, keine Musik und keine Tonalität zu hören sein.

Präsentation

Kindern und Jugendlichen diese Form des kreativen Arbeitens zu vermitteln, erfordert Geduld, Leidenschaft für und Neugierde auf die ungewohnten und unerhörten Klanglandschaften unseres Alltags. Die Methodik ist entsprechend der altersmäßigen, kulturellen, sozialen Zusammensetzung der Teilnehmenden zielgruppenorientiert und muss je nach Gruppe neu entworfen werden. Für jede Gruppe gilt: Das Fremde wird entweder bekannt und zum Eigenen oder bleibt fremd und schult damit die innere Haltung im Umgang mit dem Fremden. Dabei spielen Aufführung, Präsentation und Werkstatt am Ende des Projekts oder einer Unterrichtseinheit eine bedeutende Rolle. Die Teilnehmenden lernen nicht nur, sich in der Welt der unbekannten Klänge zu bewegen und zu orientieren, sondern sie präsentieren ihre Arbeitsergebnisse auch einer unbekannten Größe von Publikum, das in den meisten Fällen äußerst positiv reagiert.6

1 Luigi Russolo: „L’Arte dei rumori“ (1916), Absatz 1.2, in: Justin Winkler: Die Klanglandschaft zwischen stummem Lärm und sprechender Stille. Referat, Evangelische Akademie Baden, Bad Herrenalb, 12. März 1994, redigierte Version in: Der Verlust der Stille. Ansätze zu einer akustischen Ökologie (= Herrenalber Forum 13), Verlag Evang. Presseverb. für Baden, Karlsruhe 1995, S. 56-72, hier: S. 27.
2 John Cage: Silence-Readings and Lectures by John ­Cage (1961), Wesleyan University Press, Middletown/ Connecticut 2011, S. 20.
3 Helmut Lachenmann: „Vom Greifen und Begreifen – Versuch für Kinder“, in: ders.: Musik als existentielle ­Erfahrung (Schriften 1966-1995), hg, von Josef Häusler, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1996, S. 163.
4 Ursula Brandstätter: „Experimentelle Musik erfordert experimentelle Didaktik. Das Projekt ,Querklang‘ an der UdK Berlin“, in: Diskussion Musikpädagogik, Heft 51/2011, S. 12-16.
5 Matthias Schlothfeldt: „Kompositionspädagogik: ist die Musiktheorie zuständig?“, in: Musik­theorie und Komposition. XII. Jahreskongress der Gesellschaft für Musiktheorie Essen 2012 (= Folkwang ­Studien, Band 15), hg. von Markus Roth und Matthias Schlothfeldt, Olms, Hildesheim 2015, S. 177-195, Kap. 2 „Musiktheorie und Komposition“, hier: 2. Seite.
6 www.klangradar3000.de, www.klangradar-berlin.de

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