Kanczyk, Michael

„Oh, wir fahren mit dem Zug…“

Klassenmusizieren mit Klavier: Chance und Bereicherung

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 1/2016 , Seite 32

Klavierlehrkräfte sind gewohnt, vorwiegend Einzelunterricht zu erteilen. Aber Klavier-Klassenunterricht an einer Grundschule? Ist das überhaupt möglich? Michael Kanczyk bietet im Rahmen des Arbeitskreises “Klassen­musizieren” der Fachgruppe Päda­gogik an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen seit 2005 Klavier-Klassenunterricht an und kann diese Frage eindeutig bejahen.

Am Beginn jedes Projekts stehen Neugier und Freude. Für die teilnehmenden SchülerInnen (13 bis 18 Kinder an fünf Instrumenten) ist die Unterrichtsstunde etwas Neues und ich spüre seitens der Klasse eine Erwartung auf etwas Ungewöhnliches. Für viele ist es die erste Begegnung mit einem Instrument. Das Klavier hat eine große Anziehungskraft. Der Flügel, an dem wir die ersten Klänge erzeugen, erhält für die SchülerInnen eine ganz neue Bedeutung.
Die ersten Stunden konzentrieren sich auf die Erkundung des Instruments und die Sensibilisierung für die Klangfarben. Das Erzeugen des Klangs fasziniert die Kinder. Besonders interessant finden sie das vorsichtige Berühren einer vibrierenden Saite mit der Fingerkuppe. Bei dieser Übung habe ich hervorragende Möglichkeiten, die Finger und Spannungen in der Hand zu beobachten. Von Anfang an sind für mich die Wahrnehmung der Hände und die Lockerung des Spielapparats sowie gemeinsames Pulsempfinden von großer Bedeutung. Die Übungen hierzu sollen fester Bestandteil jeder Unterrichtsstunde sein.
Die Stabilisierung der Finger und der Grundgelenke üben wir an Tischen. Das Pulsempfinden lernen wir mit Rhythmisieren von Texten und Bodypercussion. Um die Orientierung auf der Klaviatur zu erlernen, benutzen wir Papiertastaturen von natürlicher Größe im Umfang von zwei Oktaven (c-c”). Auch Notation und elementare Musiklehre führe ich in kleinen Schritten ein.
Die Kenntnisse der Intervalle von Prime bis Quinte bilden das Fundament für einfache Begleitungen und das Verständnis der melodischen Abläufe. Dieses Wissen schafft dann die Grundlagen zum Aufbau eines Klavier­orchesters. Das theoretische Gerüst ermöglicht das schnellere Erlernen neuer Aufgaben und animiert die SchülerInnen zum Expe­rimentieren. Als Beispiel kann das Begrüßungslied dienen (siehe Notenbeispiel auf der folgenden Doppelseite), das in C-Dur auf Tonika, Subdominante und Dominante aufgebaut ist. Diesen harmonischen Ablauf kann man dann in eigenen Stücken oder Arrangements, die für die ganze Klasse konzipiert sind, einbauen. Ähnliche Funktion hat die Quinte, die die SchülerInnen sehr gern in Bordun-Begleitungen verwenden.
Die Planung des Unterrichts in der Anfangsphase kann man an die Lernschritte des Einzel- oder Gruppenunterrichts anlehnen. Allerdings muss man ständig die unterschiedliche Lerngeschwindigkeit der Kinder berücksichtigen und für jedes Kind eine individuelle Aufgabe im angepassten Schwierigkeitsgrad vorbereiten. Ich plädiere für eine zweijährige Durchführung des Projekts Klavier-Klassenunterricht. Im ersten Schuljahr bestehen die methodischen Ziele in Pulsempfinden, Orientierung auf der Klaviatur, Einführung der Notation, Entwicklung der motorischen Fähigkeiten und Einführung der Intervalle. Im zweiten Schuljahr sehe ich die Schwerpunkte des Unterrichts in Differenzierung des musikalischen Ausdrucks, Entwicklung der Motorik, Einführung des beidhändigen Spiels und Bildung eines Klavierorchesters.
Sehr wichtig ist die Auswahl der Stücke. Dabei müssen die Aufgaben für die SchülerInnen so festlegt sein, dass sie sich nicht überfordert, aber auch nicht unterfordert fühlen. Die Kinder entscheiden oft spontan, ob sie ihren Part ein- oder beidhändig spielen möchten. Sie suchen häufig ihren eigenen Weg und finden dabei interessante und zutreffende Lösungen. Der freie Raum zum Erforschen des Instruments motiviert die Kinder zusätzlich. Die Einführung eines neuen Stücks sollte man zunächst auditiv vorbereiten. Sehr motivierend ist auch, wenn die Klasse zu melodischen Motiven selbst einen Text erfindet.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2016.