Schoenbaum, David

Die Violine

Eine Kulturgeschichte des vielseitigsten Instruments der Welt

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter/Metzler, Kassel/Stuttgart 2015
erschienen in: üben & musizieren 2/2016 , Seite 49

Man kann diesen gewichtigen Band aufschlagen, wo man will – auf jeder Seite möchte man weiterlesen. Der Autor breitet sein enzyklopädisches Wissen in einer Fülle aus, die verwirren könnte, wäre sie nicht sorgsam strukturiert. Scheinbar überraschende Feststellungen erweisen sich als Orientierungshilfe. Wenn Schoenbaum zum Beispiel im Abschnitt „Das Geigenspiel“ (es folgt auf „Geigenbau“ und „Geigenhandel“) schreibt, die Violine sei seit ihren Anfängen „europäisch und männlich“, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ganz besonders „durch osteuropäische jüdische Geiger“ geprägt gewesen, bevor seit etwa 1980 „asiatische Frauen“ dominierten und „an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“ ein „westdeutsches Geigenwunder aufblühte“, so ist dies keine gewagte Theorie, sondern ein Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung des Violinspiels und des Unterrichtens.
Der leidenschaftliche Geigenamateur Schoenbaum hat sich mit dem Thema Violine neben seiner Lehrtätigkeit als Historiker an der University of Iowa lebenslang befasst. Bekannt wurde er 1968 durch sein Buch Die braune Revolution (Hitler’s So­cial Revolution). Seine Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer vorbildlichen Demokratie erst entstehen konnte, nachdem Hitler die Strukturen der Weimarer Re­publik zerstört hatte, wurde damals von dem deutschen Historiker Hans Mommsen als „entscheidend wichtig“ beurteilt.
Osteuropäische jüdische Geiger waren von der nationalsozialistischen Diktatur unmittelbar betroffen, und man muss Schoenbaum dankbar dafür sein, dass er diese Tatsache und ihre Folgen ganz ideologiefrei betrachtet. Wie die jüdischen Geiger der großen Orchester verschwanden nach 1933 auch ihre Lehrer, darunter Carl Flesch und sein ehemaliger Assistent Max Rostal, jüngster Professor an der von Joseph Joachim begründeten Berliner Musikhochschule, aus dem deutschen Kulturleben. Joachim, Flesch und Rostal entstammten dem gleichen böhmisch-ungarischen „Dreiländereck“ wie Leopold Auer, der Petersburger „Übervater“ junger Emigranten wie Mischa Elman, Efrem Zimbalist und Jascha Heifetz, die in Amerika eine atemberaubende Entwicklung des Violinspiels einleiteten. Wie die Flesch-Ära in Westeuropa hätte weitergehen können, bezeugt das Beispiel Anne-Sophie Mutter, deren Lehrerin Aida Stucki zu den Auserwählten zählte, mit denen Flesch nach einer Odyssee durch Europa im April 1943 begann, „eine neue Generation junger Schweizer Geiger hervorzubringen“.
Aus dem Vollen schöpft Schoenbaum auch in seiner Darstellung der vorausgegangenen Jahrhunderte. Wie aus den Barockgeigen der frühen Meister durch ständige Veränderungen und Verbesserungen „moderne“ Violinen wurden, so lässt sich auch die Aufführungspraxis nicht schematisieren. Bei den Virtuosen zielte sie stets darauf ab, in Fürstenhäusern fürstlich entlohnt zu werden oder vom bürgerlichen Publikum in großen Sälen hohe Eintrittsgelder zu kassieren. Giovanni Battista Viotti, „Vater“ des klassisch-romantischen Violinkonzerts, brach sogar seine Karriere frühzeitig ab, weil er meinte, im Weinhandel mehr verdienen zu können. Sein großer Nachfolger Niccolò Paganini sammelte als Publikumsmagnet Reichtümer zugunsten seines Sohnes oder verschenkte sie – zum Beispiel an Berlioz. Zum legendären Teufelsgeiger wurde er erst auf seinen europaweiten Konzertreisen seit 1828. Da war er bereits 46 Jahre alt und unheilbar krank.
Im Abschnitt „Geigen, die die Welt bedeuten“ geht es um die kulturellen Szenarien, um Poesie und Prosa, gerahmte und bewegte Bilder. Ob David Garrett – er verbesserte Paganinis Rekord von elf Tönen pro Sekunde auf über 13 Töne –, ob Weltmusik oder Indie-Rock: Schoenbaum umschreibt den gesamten Kosmos der Violine. Seine Kompetenz belegen das 25 Seiten lange Register, der 55 Seiten umfassende Anmerkungsteil und eine Liste von mehr als 60 prominenten Namen in den Danksagungen für Beratung und Information – von Ida Haendel bis Christoph Poppen und Isabelle Faust.
Reinhard Seiffert