Sommerfeld, Jörg

Auditive Grundhaltung

Transkribieren als forschender Umgang mit Musik

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 3/2016 , Seite 26

Den Song im Radio kenne ich aus den 1980er Jahren von Chaka Kahn. Aber das hier ist irgendwie ein neuer Remix. Ich lade ihn mir aus dem Internet herunter und importiere ihn in meine DAW1 auf dem Computer. Diese erkennt sofort das Songtempo, auf einem Lineal kann ich nun jeden Takt komfortabel direkt mit der Maus ansteuern. Ich improvisiere am Klavier dazu, der Remix macht Spaß und klingt modern. Die Akkorde sind schnell gefunden, die Bassline ist einfacher als im Original von 1988. Einfacher? Das könnte meine SchülerInnen freuen…

Ich öffne mein Notensatzprogramm, lade die Standardbesetzung meines Unterstufen­orchesters und tippe die gefundenen Akkorde vorläufig in irgendeine Notenzeile, den Bass in die Tubanoten. Viel mehr brauche ich nicht, die Melodie kenne ich sowieso auswendig und kann sie direkt aufnehmen, erst mal in die Flötenstimme. Meine DAW und ­Notensatzsoftware laufen perfekt synchron dank ReWire,2 ich höre also immer die Originalaufnahme mit den von mir geschriebenen Tönen genau gleichzeitig. Transkriptionsfehler fallen mir dadurch schnell auf. Ich mache ein vorläufiges Arrangement jeweils von Strophe, Refrain und Bridge, experimentiere dann noch ein wenig mit der Instrumentierung (kann die junge Saxofonistin schon diesen Sechzehntellauf spielen?). 90 Minuten nachdem ich den Song wiedererkannt habe (es war Ain’t Nobody in der Coverversion von DJ Felix Jaehn mit Sängerin Jasmine Thompson), sehe ich ein Blasorchesterarrangement vor mir, das ich ohne jede Notenvorlage erstellt habe.

Was möchte ich ­eigentlich notieren?

JazzmusikerInnen arbeiten anders als klas­sisch ausgebildete KollegInnen. Ihre Praxis betont das Auditive, sie hören zuallererst Ton­aufnahmen, lernen Skalen, Phrasen oder gan­­ze Improvisationen aus­wendig.3 Noten spielen eine untergeordnete Rolle, und wenn, so sind es häufig selbst erstellte Transkriptionen unterschiedlicher Musik. Sie werden also in deskriptiver, nicht in präskriptiver Weise verwendet.4 Dadurch entstehen besondere Schwierigkeiten, doch dazu später mehr.

1 DAW steht für Digital Audio Workstation, ein Software-Tonstudio.
2 ReWire ist ein verbreitetes Softwareprotokoll, mit dessen Hilfe sich verschiedene Musikprogramme verbinden lassen.
3 Nancy M. Gamso: „First and foremost, jazz musicians learn by listening.“ In: „An Aural Learning Project. Assimilating Jazz Education Methods for Traditional Applied Pedagogy“, in: Music Educators Journal December 2011, SAGE Publications on behalf of the National Association for Music Education, S. 62.
4 vgl. Charles Seeger: „Prescriptive and Descriptive Music-Writing“, in: The Musical Quarterly, Vol. 44, No. 2, April 1958, S. 184-195.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2016.