Widmaier, Martin

Die Landschaft des Instruments

Klavierpraxis an Musikschule und Musikhochschule

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2015 , Seite 06

Natur- und Kulturlandschaft sprechen u. a. Auge, Nase (Orangenblütenduft!) und vegetatives Nervensystem an. Die “Landschaft des Instruments”, wie sie sich vor Spielerinnen und Spielern von Tasteninstrumenten ausbreitet, wendet sich u. a. an Hand, Ohr (Neapolitanischer Sextakkord!) und Musikverstand. Wer Klavierspiel als Musizierpraxis begreift, lässt sich auf diese Landschaft ein.

In diesem Geist sei ein knapper Versuch über die „wahre“ Kunst des Klavierspiels unternommen, ein Versuch, der für alle einschlägigen Zielgruppen taugen soll: für Klavierlehrerinnen und Konzertpianistinnen, Hauptfach- und Nebenfachstudenten, Laien am Anfang und Profis am Ende. Denn sie alle sitzen an denselben 49 bis 97 Tasten, und sie alle befassen sich mit durmolltonaler, taktmäßig und periodisch gegliederter Musik, die einerseits in Alte, andererseits in Neue Musik übergeht. Wenn auf irgendwelchen Levels oder in irgendwelchen Sparten Sonderregeln gelten sollen, etwa „Daumen auf c’ verstauen“ (im Anfangsunterricht), „staatstragend schauen“ (auf der großen Bühne) oder „in die Tasten hauen“ (im Tonsatzunterricht), dann lohnt sich eine gewisse Skepsis. Entweder sind solche Regeln ungültig – oder allgemein gültig. Wenn z. B. auf der Unter­stufe Rhythmen gesprochen und Melodien gesungen, Metren getupft und Harmonien gesucht werden, nicht aber auf der Oberstufe, dann muss diese Schieflage analysiert werden. Analyseergebnis: Selbstverständlich profitieren auch Könnerinnen und Könner davon, zu sprechen und zu singen, zu tupfen und zu suchen und sich so neue Zugänge zu schaffen. Was „wahr“ ist, ist auf allen Levels und in allen Sparten „wahr“.
Allerdings liegen mir nicht alle Zielgruppen im gleichen Maß am Herzen. Weniger ins Gewicht fällt, wer ausschließlich konzertiert – wo ich eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der Landschaft des Instruments vermisse, kann ich in der Pause ja gehen. Besonders ins Gewicht fällt, wer Klavierunterricht gibt oder geben will – zwei miteinander verbundene Beweggründe seien trotz ihrer Selbstverständlichkeit ausgesprochen: das Wohl der Kinder; die schöne Musik.
Der Titel dieses Beitrags soll die Eigen­gesetzlichkeit, den Aufforderungscharakter, das Immer-Neue des Klaviers herausstreichen; der Untertitel soll deutlich machen, dass ich Klavierspiel als Musizierpraxis beschreibe und dabei an Unterricht auf allen Stufen denke. Weil ich weder alles weiß noch mehreres gleichzeitig sagen kann, muss ich mich damit begnügen, einige wichtige Aspek­te zu nennen und nacheinander zu umreißen.

Musik ist in Stille ­eingebettet2

Das stimmt nicht ganz, denn Musik kann auch in Lärm eingebettet sein: Die einleitenden Klänge des Rocksongs setzen sich gegen den Jubel des Publikums durch, die Schlussakkorde der italienischen Opernarie gehen im Jubel des Publikums unter. Somit ist Musik in eine Welt der Geräusche eingebettet – und genau diese Welt der Geräusche ist vor und nach dem Spiel bewusst wahrzunehmen: Regentropfen auf dem Fenstersims, Autoreifen auf dem Kopfsteinpflaster, eine Amsel, ein Martinshorn, im Idealfall: Stille. Sowohl im Klavierunterricht als auch beim Üben gilt es, immer wieder musikalischen Raum und musikalische Zeit zu schaffen.

1 Der Musikwissenschaftler Thomas Kabisch hat mich bereits mehrfach mit dieser Wendung in Zusammenhang gebracht. Ich kann eine Urheberschaft weder mit Sicherheit bestätigen noch mit Sicherheit ausschließen, greife die Anregung aber dankbar auf. Im Übrigen haben mich die Referate, Veröffentlichungen und Zwischenrufe von Thomas Kabisch (einige seiner Aufsätze sind in Form von PDF-Dateien im Internet zu finden) immer wieder nachhaltig beeinflusst.
2 Diese Formulierung und einige weitere Formulierungen sind – so weit ist es schon gekommen – wörtliche Zitate aus älteren eigenen Texten. Im vorliegenden Aufsatz sehe ich davon ab, solche „kristallisierten“ Wendungen als Zitate auszuweisen, und zwar mit gutem Grund, gehen sie doch inhaltlich keineswegs auf mich zurück.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2015.