Herrgott, Gerhard

Franz Liszts Technik des Klavierspiels

Eine Rekonstruktion nach Schriften von Frederic Horace Clark

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2015 , Seite 23

“Wenn du an deinem Entschlusse festhältst, niemals durch einen Schlag anzuschlagen oder dem Gewicht Bedeutung zukommen zu lassen, dann wirst du zur Freiheit der Technik gelangen.”1 Das war eine der Hauptmaximen, die Franz Liszt einem begeisterten Jüngling einschäfte, der keinen Aufwand gescheut hatte, um vom Großmeister persönlich zu erfahren, wie man Klavier spielen soll.

Um 1880 war Frederic Horace Clark zum Papst des Klavierspiels gepilgert, und der junge Feuerkopf scheint dem alten Liszt, der zu Fragen der Klaviertechnik schon lange verstummt war, tatsächlich die Zunge gelöst zu haben.2 Was Liszt ihm mitteilte, baute Clark in einem halben Dutzend voluminöser Werke aus; eine erste Skizze erschien 1885.3
Clarks Schriften werden bis heute kaum rezipiert, obwohl es immer wieder Hinweise auf ihre Bedeutung gibt.4 Bertrand Ott hat 1987 die bisher vollständigste Zusammenschau von Zeugnissen über Liszts Klaviertechnik vorgelegt; sein Urteil ist eindeutig: „Die subs­tantiellsten Hinweise zu unserem Thema verdanken wir Clark.“5 Leicht zu lesen und zu verstehen sind sie nicht, denn Clark hat die Perlen der Liszt’schen Klavierlehre in einen wortreichen Hymnus aus pythagoreischer Harmonielehre und theosophischen Fantasien6 eingebettet und zudem in Sätzen von entmutigender Komplexität verdichtet. Um Liszts Gedanken in klarere Regionen zu holen, versuche ich Clarks Aussagen im Folgenden nach vier Aspekten zu zerlegen: Anschlag, Bewegungslehre, Physio-Ästhetik7 (Verbindung zwischen Bewegungen und Musik) und Spannung.

Anschlag: Der Spannungsbogen

Beginnen wir mit der Frage des Anschlags: Wenn die Finger nicht wie zehn kleine Hämmerchen auf die Tasten einschlagen sollen, was sollen sie dann tun? Liszt hat seine Jugendjahre bekanntlich in Paris verbracht, und im Französischen „schlägt“ man das Klavier nicht wie im Deutschen, sondern man „touchiert“ es. Chopin ging noch weiter: „Caressez les touches“ („Streicheln Sie die Tasten zärtlich“), wies er seine SchülerInnen an.8 Wie hat Liszt „toucher“ und „caresser“ übersetzt? Die Hände des Pianisten, sagt er, sollen „über die Tasten kosend, streichelnd, gleitend, wirbelnd, wirkend ziehen“. Er zitiert dazu den medizin-philosophischen Schriftsteller Joseph Ennemoser: „Der Tastsinn ist für unsere Kunst Hauptmittel.“ Im Gegensatz zum „passiven Gefühl der Haut“ sei „das Getast, das tastende Fühlen, der aktive bewegliche Gliedersinn“.9

1 Frederic Horace Clark: Liszts Offenbarung. Schlüssel zur Freiheit des Individuums, Berlin 1907, S. 187; online unter www.archive.org. Im Folgenden beziehen sich Seitenzahlen ohne weitere Angaben oder mit der Sigle LO auf dieses Buch.
2 „Vor vielen Jahren suchte ich das öfters mit den Schülern, die zu mir kamen, zu besprechen, aber ich fand, daß es nicht viel nützte.
Seit dreißig Jahren befolge ich hinsichtlich der Technik deshalb meis­tens Goethes Vorschlag, der im Wilhelm Meister die Lehrer nur mit wort­losen Taten unterrichten läßt.“ LO 60 – Clarks Biografie ist nachzulesen bei Robert Andres: Pianos and Pianism, London 2001.
3 Frederic Clark-Steiniger: Die Lehre des einheitlichen Kunstmittels beim Clavierspiel. Eine Kritik der Claviermethoden, Berlin 1885.
4 „Clark führte in den Jahren 1876/77/78 und 1882/83 und 1885 Gespräche mit Liszt. Auf diese Unterredungen sind nur ganz vereinzelt Autoren eingegangen. In keiner der größeren Liszt-Biographien ist seiner Existenz überhaupt nur Erwähnung getan.“ Mathias Matuschka: Die Erneuerung der Klaviertechnik nach Liszt, München 1987, S. 115.
5 Bertrand Ott: Liszt et la Pédagogie du Piano. Essai sur l’Art du Clavier selon Liszt, Issy-sur Mouligny 1987, S. 75.
6 so Kurt Johnen: Artikel „F. H. Clark“ in: Musik in Geschichte und ­Gegenwart, Kassel 1952, Sp. 1462. Ob es zutrifft, dass Clarks späte Schriften, wie Johnen schreibt, „für eine fachliche Beurteilung kaum mehr in Frage“ kommen, möge man selbst beurteilen; die Herausgeber der neuen MGG waren weniger zögerlich und haben Clark aus der Musikgeschichte schlicht getilgt.
7 Physio-Ästhetik nenne ich den Zusammenhang zwischen Klang und Phrasierung einerseits, Bewegung und Spannung andererseits. Vgl. Gerhard Herrgott: Die Kunst des Anschlags; www.mpiwg-berlin.mpg.de/ Preprints/P366.PDF (2008).
8 vgl. Elgin Roth: Die Wiederentdeckung der Einfachheit, Augsburg 2004, S. 91.
9 LO 141, 80.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2015.