Kremer, Gidon

Briefe an eine junge Pianistin

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Braumüller, Wien 2013
erschienen in: üben & musizieren 3/2014 , Seite 52

Kunst hat unbequem zu sein. Wenn sich Kunst aber gut verkaufen soll, ist das Unbequeme eher hinderlich. Und das Unbequeme wird auch nicht für den „Echo“ nominiert. Gidon Kremer ist ein unbequemer Künstler. Das Unbequeme, das zur Maxime seines Künstler­lebens wurde, mahnt er nun für die junge Musikergeneration an. Zehn Briefe an eine junge Pianis­tin hat er geschrieben und sie mit einem „Dekalog eines Interpreten“ sowie einem Seitenhieb auf unsere Orchester („Albtraumsymphonie“) zu einem schmalen Büchlein vereinigt.
Gidon Kremer hat musikalisch viel zu sagen und auch literarisch hat er sich seit 1993 in vier autobiografischen Bänden lesenswert geäußert. Die zehn Briefe, datiert zwischen Mai 2010 und Anfang 2012 und gerichtet an „liebe Aurelia“, auch „liebe Stumme Freundin“ oder „verehrte junge Kollegin“, sind, in aller sich wiederholenden Nachdrücklichkeit, Warnung vor dem Musikmarkt und seinen Gefahren. „Wer mehr verkauft (sich verkauft), der ist oder gilt als erfolgreicher.“ Und Kremer fragt im selben Atemzug: „Wird jeder von uns dadurch besser?“
Die Mahnungen betreffen Existenzielles. „Entscheidend für die Karriere, sogar für das Leben, wird das Know-how, wie man seine Begabung am besten verkauft. Dass man seine Seele gleich mitverkauft, merken nur wenige. … Das empfinde ich als beängstigend.“ Obwohl Kremer „keinen Druck“ ausüben, sondern „künstlerischer Ratgeber“ sein will, könnte die Suada zum Thema „Der Künstler als Ware“ die „liebe Aurelia“ auch entmutigen. Kremers Mahnungen zur grassierenden Ökonomisierung von Kultur und Bildung, die im Klassikbusiness zudem mit einer Glamourisierung (die Schultern der jungen, schönen Musikerinnen werden auf den Covern immer nackter) einhergehen, sind  richtig und dringend geboten. Aber es sollte jungen KünstlerInnen ohne Schuldgefühle (Kremer nennt Karriere auch „Verrat an der Musik“) unbenommen sein, sich nach langen Jahren entbehrungsreichen Studierens und Übens, womöglich mit dem Verlust der Kindheit verbunden, mit naiver Freude am Erfolg in die Öffentlichkeit zu begeben.
Erfüllt man dann nur die „primitiven Normen des Establishments“? Ist dann nicht immer noch Zeit, den „eigenen Ton“ zu suchen und zu finden, eine zweite Argerich, ein zweiter Sokolow zu werden, die hier als taugliche Vorbilder auftauchen? Kunst braucht eben auch Zeit. Und verhindert Erfolg die Möglichkeit, reif zu werden und als Zugabe Webern statt Liszt zu spielen? Ratschläge, wie man sich den mächtigen Mechanismen der Vermarktung entzieht, gibt Kremer nicht wirklich. Kremers „Albtraum“ ist ein „Orchester der vereinten Nichtskönner“, eine strenge, mäßig satirische Abrechnung mit dem Orchesteralltag. Der „Dekalog eines Interpreten“ vereinigt Kremers mu­sikalisch-moralisches Denken. Zehn Gebote? Die altväterliche Selbstherrlichkeit bleibt da nicht außen vor.
Günter Matysiak