Arditti, Irvine / Robert HP Platz

Die Spieltechnik der Violine

mit DVD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2013
erschienen in: üben & musizieren 1/2014 , Seite 48

Der Titel kann die Vorstellung wecken, es handle sich um ein weiteres Grundsatzwerk zur Violintechnik. Die Verfassernamen lassen aber bereits erkennen, worum es geht: um zeitgenössische Musik für Violine und die mit ihr verbundene Erweiterung der Spieltechnik. Hierfür sind kompetentere Autoren als Irvine Arditti, der mit seinem Quartett und als Solist auf diesem Gebiet neue Maßstäbe gesetzt hat, und der ihm als Komponist und Di­rigent ebenbürtige Robert HP Platz gar nicht denkbar.
Die Wiedergabe neuer Musik auf Streichinstrumenten ist nicht gleichzusetzen mit subjektiver Interpretation. Wer ein neues Werk spielen will, muss zunächst herausbekommen, was der Komponist meint. Um die Instrumentalisten vor frustrierenden Erfahrungen zu schützen, gibt Robert HP Platz unter „Grundbegriffe“ eine Einführung mit Glossar für Komponisten, verbunden mit der Bitte, vor der Kreierung neuer Begriffe und Symbole die schon vorhandenen auf ihre Anwendbarkeit zu prüfen oder die normale Notenschrift zu benutzen. Wenn zum Beispiel ein nach oben gerichteter Pfeil bedeuten soll „so hoch wie möglich“, dann – so Platz – ist dies nur bei Sololiteratur hinreichend klar, während bei chorischen Besetzungen zu klären wäre, ob jeder Spieler seinen eigenen höchsten Ton spielt, woraus sich „je nach Qualität des Ensembles ein mehr oder weniger enger Cluster“ ergibt. Wenn alle denselben Ton spielen sollen, „sollte man ihn auch benennen…“
In der Praxis treten noch weit komplexere Probleme auf. Arditti verweist in seinem Vorwort auf die Tatsache, dass es keine klar definierten Kompositionsschulen mehr gibt. Jeder Komponist fordere eine persönliche Aufmerksamkeit auch hinsichtlich der Frage, ob er eher von orthodoxen Spielarten oder von jenen der jüngeren Vergangenheit beeinflusst werde, „wo die typische Klangwelt des Streichinstruments sich dramatisch bis hin zum Bruch mit der Tradition veränderte“. Dies habe wiederum auch Rückwirkungen auf klassisch ausgerichtete Solisten. So habe zum Beispiel Gidon Kremer durch seine blendende Virtuosität in klassischer und neuer Musik „vielleicht einer neuen Generation von Solisten den Weg zu einem neuen Verständnis für Barock, Klassik und Neuer Musik“ geebnet. Er sieht die Rolle des Violinisten in einer Neutralität, die ihn in die Lage versetzt, das Bewusstsein von klassischer Musik „umzuschalten auf die rhythmischen Kniffligkeiten eines Ferneyhough oder die einzigartige Klangwelt Lachenmanns“.
Arditti wendet diese Erkenntnis in faszinierender und leicht verständlicher Weise auf die Gebiete Lagen, Bogentechnik, Vibrato, Pizzicato, Glissandi, Flageoletts, Tabulaturen, Rhythmus sowie Violine und Elektronik an. Er demonstriert sie überzeugend in den übersichtlich geordneten Beispielen der begleitenden DVD. Selbst wenn man sich nicht professionell in diesen Kosmos hineinwagen will – das muss man gelesen, gesehen und gehört haben.
Reinhard Seiffert