Spychiger, Maria

Das musikalische Selbstkonzept

Wer ich bin und was ich kann in der Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 18

Von 2008 bis 2010 wurde an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main eine wissenschaftliche Studie über das musikalische Selbstkonzept durchgeführt1 mit dem Ziel, ein Messinstrument herzustellen, mit dem der musikalische Bereich des Selbstkonzepts einer Person erhoben werden kann. Es entstand ein Fragebogen, mit dem nun jeder selbst seinem musikalischen Selbstkonzept und damit diesem Bereich seiner Persönlichkeit näher kommen kann.

Was ist ein musikalisches Selbstkonzept? Zum Selbstkonzept gibt es in der Psychologie seit Jahrzehnten Publikationen, Vorlesungen, Tagungen und Forschung. Ein Selbstkonzept ist das, was ein Mensch über sich selbst denkt: Was er ist und was er kann. Seit den empirisch begründeten Beiträgen von Richard Shavelson und seinen Mitarbeitern2 aus dem Jahr 1976 hat sich die präzisierte Sicht des Konstrukts durchgesetzt, nämlich dass Menschen nicht ein allgemeines Konzept über sich selbst haben, sondern sich domän-spezifisch sehen. Es bedeutet, dass ein Mensch – je nachdem, um welchen Lebens- und Fachbereich es gerade geht – mit unterschiedlichen Einschätzungen über sich selbst Iebt. So kann sich jemand zum Beispiel für vergleichsweise gutaussehend und sportlich halten und deshalb über ein starkes physisches Selbstkonzept verfügen, während diese gleiche Person von sich denkt, sie könne sich nicht besonders gut ausdrücken und habe Mühe, Fremdsprachen zu lernen – ihr sprachliches Selbstkonzept ist fähigkeitsbezogen und schwach.
Auch im musikalischen Bereich entwickeln Menschen spezifische Überzeugungen darüber, wer sie sind und was sie können. Aus Sicht der Forschung kann man sagen, dass wir mit dem musikaIischen Selbstkonzept einen Bereich in den Blick genommen haben, zu dem es bislang noch wenige Arbeiten gab. Sie befassten sich mit Menschen, die beruflich mit Musik zu tun und ausgeprägte musikalische Fähigkeiten haben. Aus der Beschäftigung mit Musik im Alltag, mit musikalischer Betätigung verschiedenster Menschen und aus einer früheren Studie zur musikalischen Biografie3 hatte ich jedoch schon seit Langem den Eindruck, dass ein musika­lisches Selbstkonzept bei Menschen auch unabhängig von musikalischer Bildung und Begabung vorhanden ist, und insbesondere, dass es von sehr unterschiedlicher Qualität ist: In den Untersuchungen zur musika­lischen Biografie erzählten Menschen verschiedensten Alters und aus unterschiedlichsten Verhältnissen und Berufen, dass sie nicht gut oder gar nicht singen könnten, dass sie die Notenschrift nicht verstünden oder dass sie rhythmisch nicht gut seien und „zwei linke Füße“ hätten. Viele erzählten, sie hätten einmal begonnen, ein Instrument zu spielen, es aber bedauerlicherweise oder aus Mangel an Talent schon bald oder jedenfalls nach einer gewissen Zeit wieder aufgegeben.
Hinter all diesen Beispielen können wenig positive Selbstkonzepte für den Bereich der musikalischen Fähigkeiten angenommen werden. Dies ist wichtig zu verstehen, weil sich Selbstkonzepte auf Motivation, Verhalten und Befinden stark auswirken: Menschen, die von sich denken, dass sie musikalisch nichts oder nicht viel können, werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht musikalisch betätigen.

Der Mensch ist ein ­musizierender Mensch

Nun brachte aber diese erste kleine Studie etwas anderes, höchst Bedeutsames zum Vorschein: Die gleichen Menschen, die ein solchermaßen negatives oder armseliges Selbstkonzept ihrer musikalischen Fähigkeiten hatten, konnten mit großer Eindringlichkeit von ihren Vorlieben für bestimmte Bands, Sänger oder Musikstücke sprechen. Sie erzählten, wann und wo – z. B. beim Autofahren oder am Sonntagnachmittag zuhause oder beim Ausdauertraining – sie diese hören und was sie emotional bewirken, z. B. Erholung vom Arbeitsstress, Anregung zum Aufstehen, Bewältigung eines schwierigen Lebensereignisses. Sie berichteten auch, mit wem sie Musik hören und ihre Vorlieben und Interessen teilen.
Jugendliche sagten etwa, sie würden stundenlang mit Freunden und Kollegen oder Freundinnen Musik hören, darüber sprechen oder sich anderweitig damit befassen, oft auch aktiv tanzend oder musizierend. Bei nicht wenigen Menschen zeigte sich, dass die Musik eine große Bedeutung für ihr religiöses oder spirituelles Leben hat.
Allerdings variierte die Bedeutung dieser Dimensionen innerhalb und zwischen den verschiedenen Studienteilnehmenden erheblich. Anhand eines „Thermometers“ mit zehn Graden wurden die Probandinnen und Probanden gefragt, wie wichtig ihnen die Musik im Leben insgesamt sei. Keine Person gab einen Wert unter 6 an, sodass sich bestätigte, was der Anthropologe Wolfgang Suppan sagt: „Der Mensch ist ein musizierender Mensch.“4 Menschen sind musikbezogen, sie drücken sich musikalisch aus, noch bevor sie sich sprachlich ausdrücken; einen guten Teil des Lebens verstehen sie durch Musik, und die meisten Menschen lieben die Musik.5
Dieser musikalische oder musikbezogene Lebensbereich, dessen Genese und Ausdruck, umfasst seinerseits mehrere Dimensionen. Das Modell im Forschungsantrag für die große Studie enthielt nebst der unumstrittenen Fähigkeitsdimen­sion („Was ich kann“) die Dimensionen des „Wer ich bin“ im musika­lischen Bereich. Der Titel der Studie lautete „Das musikalische Selbstkonzept. Konzep­tion des Konstrukts als mehrdimensionale Domäne und Entwicklung eines Messverfahrens“.

1 Es gibt zu der Studie eine umfassende Schrift, die auf Anfrage von der Autorin gerne an Interessierte abgegeben wird (maria.spychiger@hfmdk-frankfurt.de): Maria Spychiger: Das musikalische Selbstkonzept. Konzeption des Konstrukts als mehrdimensionale Domäne und Entwicklung eines Messverfahrens, Schlussbericht an den Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der Wissenschaften (Projekt Nr. 100013-116208), Frankfurt am Main 2010, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Fachbereich 2. Folgende Personen haben in dem Projekt gearbeitet und es zum Erfolg gebracht: Lucia Gruber, Franziska Olbertz, Philipp Senft, Dieter Ratz, Joy Stephens, Marco Schöni und studentische Hilfskräfte.
2 Richard J. Shavelson/Judith J. Hubner/George C. Stanton: „Self-concept: Validation of construct interpreta­tions“, in: Review of Educational Research, 46, 1976,
S. 407-441.
3 Christoph Wysser/Thomas Hofer/Maria Spychiger: Musikalische Biografie. Zur Bedeutung des Musikalischen und dessen Entwicklung im Lebenslauf, unter besonderer Berücksichtigung des schulischen Musikunterrichtes und der pädagogischen Beziehungen, Schlussbericht an die Forschungskommission der Lehrerinnen- und Lehrerbildung Bern, 2005.
4 Wolfgang Suppan: Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik, Mainz 1984.
5 Maria Spychiger: „,Nein, ich bin ja unbegabt und liebe Musik‘. Ausführungen zu einer mehrdimensionalen Anlage des musikalischen Selbstkonzepts“, in: Diskussion Musikpädagogik, 33, 2007, S. 9-21.

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