Seiffert, Reinhard

Zur Lage der Lagen

Methodische und historische Perspektiven zur Technik der linken Hand auf Violine und Viola

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 32

Im letzten Drittel des 18. Jahrhun­derts erweiterte der Tourte-Bogen die Mög­lichkeiten der Differenzierung von Stricharten und Dynamik. Etwa zeitgleich wurden durch Verlänge­rung der Mensur, des Griffbretts und des Bassbalkens sowie durch stärkere Saiten und höhere Saitenspannung das Klangvolumen vergrößert und die Nutzbarkeit hoher Lagen verbessert. Was bedeuten diese Verände­rungen für die Unterrichts- und Übepraxis?

Die Geschichte der Violine umfasst die Stilepochen von der Renaissance bis zur Postmoderne. Jedoch sind Barockvioline, klassische oder moderne Violine nicht klar definierbar, zumal die Form und die Abmessungen des Korpus seit Stradivari unverändert blieben. Allerdings war, wie David D. Boyden 1971 in seiner Geschichte des Violinspiels von seinen Anfängen bis 1761 feststellte, mit der Einführung des Tourte-Bogens ein deut­licher Wandel verbunden. Vorher waren die Instrumente leichter gebaut, sie klangen leiser und waren leichter zu spielen. Der mit tieferer Stimmung verbundene transparente Klang verträgt sich besser mit dem Cembalo als mit dem Klavier. Ob „Kurzhalsgeige“ (es gab sie eigentlich nur im frühen 17. Jahrhundert) oder längerer Hals, flach oder angewinkelt, kurzes oder längeres Griffbrett, niedriger oder höherer, wenig oder stärker gerundeter Steg, Darmsaiten oder Metall- und Kunststoffmaterial: Diese individuellen Unterschiede entsprechen der Vielfalt des höfischen Musiklebens der Barockzeit. In der heutigen Konzert- und Medienpraxis ist es ­allerdings unumgänglich, dass sich spezialisierte Instrumentalisten für bestimmte Lösungen entscheiden.
Im Unterricht und in Ensembles, deren Repertoire alle Stilperioden umfasst, haben wir es mit „modernen“ Instrumenten zu tun, die sich in ihrer Grundform zwar nicht von denen des 18. Jahrhunderts unterscheiden, aber in ihrer Ausrüstung auf die im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten Klang- und Lautstärkeansprüche sowie auf den auf 440 bis 444 Hz gestiegenen Stimmton (noch zur Zeit von Bartók waren es 435 Hz) und das moderne Klavier als Begleit- bzw. Soloinstrument ausgerichtet sind. Kinnhalter und Schulterstützen erleichtern die Bewegungen der Hand beim Lagenwechsel.
Oft wird unterschätzt, wie stark sich die baulichen Veränderungen auf die physischen Belastungen des linken Arms und der linken Hand auswirken. Das schwerere Instrument muss während des Spielens getragen und in seiner Stellung gehalten werden, die Muskulatur wird durch den Kraftaufwand für das Herunterdrücken der Saiten mit den Fingern und die Spannungen der Hand, besonders bei Doppelgriffen, stärker beansprucht. Das gilt auch für das Lagenspiel. Die Fingerabstände und damit die Verspannung der Hand in hohen Lagen sind zwar geringer, der Abstand der Saiten vom Griffbrett dagegen ist größer, somit auch der erforderliche Kraftaufwand nicht nur beim Aufsetzen, sondern auch beim Gleiten der Finger während des Lagenwechsels.
Unterschätzt werden auch die mentalen Anforderungen, die beim Lagenspiel mit der „Technik“ verbunden sind. Die Systematik im Violinspiel begann mit der Einführung der heute gültigen Lagen-Zählweise durch Johann Adam Hiller 1792. Die bald danach entstandenen sieben Divertimenti in je einer Lage von Bartolomeo Campagnoli dienten dem „Lagenbewusstsein“: Der Spieler soll wissen, in welcher Lage er sich gerade befindet und welcher Finger zu welchem Ton und welcher Saite gehört. Mit der Höhe der Lage und der Häufigkeit der Saitenwechsel wird bei abnehmender verfügbarer Saitenlänge die Tonbildung mit dem Bogen schwieriger, die „Kontaktstelle“ nähert sich dem Steg an.
Die im 19. Jahrhundert entstandenen, oft als Capricen oder Divertimenti deklarierten Etüdenwerke sind hierfür heute noch maßgeblich. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann mit Otakar Sˇevcˇík die Zeit der mechanischen Bogen-, Finger- und Lagenwechselübungen. Sie nummernweise ohne innere Beteiligung zu absolvieren, nannte Carl Flesch einen „Dämmerschlaf mit bewegten Fingern“. Sein Skalensystem dient dem Gegenteil: der ständigen Aufmerksamkeit für die Intonation, die Ausführung der Lagen- und Saitenwechsel und das Vermeiden von Nebengeräuschen und Klangunterbrechungen. Während Flesch die Auffassung vertrat, man könne „die überlieferte Lageneinteilung auf den Anfängerunterricht beschränken“, betonte sein Schüler Max Rostal die Bedeutung der Tatsache, dass jede Lage, unabhängig von ihrer Lokalisierung, durch spezifische Verhältnisse von Fingersatz und Saitenwechseln gekennzeichnet ist. In der heutigen Lehrpraxis wird die alte Zählung meist bis zur siebten Lage beibehalten. Vorübergehend zugunsten der technischen Perfektion in den Hintergrund getreten sind die künstlerischen und stilistischen Aspekte des Lagenspiels. Dass sie wieder eine Rolle spielen, hängt mit dem Interesse an „historisch informierter“ Aufführungspraxis zusammen.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2013.