Vasks, Peteris

In memoriam

für zwei Klaviere

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2013
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 56

Der 1946 geborene lettische Komponist Peteris Vasks ist bekannt dafür, dass er in seinen Kompositionen volkstümliche Wendungen der Musik seiner Heimat und schlichtes, archaisch wirkendes Tonmaterial aufgreift, dieses aber mit den Mitteln einer zeitgenössischen Musiksprache verbindet. Jene spannungsreich bipolare Stilistik prägt auch Vasks Komposition In memoriam für zwei Klaviere, die im November 1977 in Riga urauf­geführt wurde und nun in einer Ausgabe bei Schott erschienen ist, welche den Notentext in zwei identischen Spielpartituren wiedergibt.
Das in der Ausführung etwa acht bis zehn Minuten währende Stück (wobei für einzelne Abschnitte oder Pausen teils präzise Dauernangaben in Sekunden bzw. Minuten vorliegen) verbindet konventionelle Aufzeichnung in Noten mit grafischer Notation, wobei die Bedeutung der einzelnen Symbole im Vorwort präzise erläutert wird.
Den InterpretInnen bleibt bei der klanglichen Realisierung des Notentexts Spielraum im Rahmen einer begrenzten Aleatorik, wenn sie beliebige Töne oder Cluster auswählen können, die nur im Register (tief, mittel oder hoch) festliegen, oder auch die Rhythmik von Tonfolgen frei gestalten dürfen. Gar nicht so leicht durchzuführen sein dürfte der Wunsch des Komponisten, kanonartige Wendungen in den genauer fixierten Abschnitten des Werks bewusst asynchron ertönen zu lassen.
Die Aufführung bedarf einiger Vorbereitung von Zusatzmaterialien. Der im dreifachen Piano anhebende „Misterioso“-Anfangsteil benutzt nicht die Tastatur, sondern nur den Innenraum der beiden Flügel. Für die von Vasks dort gewünschten „Col-legno“-Klänge werden Holzstücke benötigt, die (für Piano-Effekte) mit Filz bespannt sind oder (für Forte-Dynamik) mit Leder.
Nach dem lange anhaltenden Verklingen dieser Cluster auf den Saiten setzt der ganz gegensätzliche „Maestoso“-Abschnitt auf den Tasten der beiden Klaviere ein: in schlichter Diatonik mit sanft fallenden melodischen Floskeln, die sich zu einer Art Vierfachkanon aufbauen, der von der eingestrichenen Oktave aus allmählich die tieferen Register mit einbezieht. Die Integ­ration der anfänglichen „Col-leg­no“-Klänge in diesen Prozess führt zum emotionalen Höhepunkt des Werks, wo zunächst chromatische Nebennoten in die Diatonik eindringen, bevor „molto maestoso, pesante“ in fünffachem Forte die parallel in allen Oktavlagen gehämmerten Melodiefloskeln diatonisch klar wiederkehren: letzter Schmerzensausbruch anlässlich des Todes jener ungenannten Person, derer hier gedacht wird?
Ein allmählicher Abbauprozess, in dem die bisherigen Materialien vielfältig und kleinräumig miteinander verquickt sind, lässt die Komposition auf beiden Flügeln „molto ritardando e diminuendo“ in einem neuen Effekt ersterben: mit Kleinsekund-Tremoli zwischen den Klaviersaiten, auszuführen mittels eines Metallstücks, das an einem kurzen Faden bewegt wird.
Gerhard Dietel