Henze, Hans Werner

Album

für Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2013
erschienen in: üben & musizieren 6/2013 , Seite 57

Den vor einem Jahr verstorbenen Hans Werner Henze kennt man in der Öffentlichkeit vor allem als Opernkomponisten sowie als Verfasser von Sinfonien, konzertanten Werken und anderen ­Orchesterkompositionen, wozu noch Kammermusik und ein umfangreiches Schaffen im Bereich der Vokalmusik treten. Reine Klaviermusik führt in Henzes Œuvre hingegen eine Nischenexistenz. Die sechs kurzen, zwischen 1966 und 1994 entstandenen, durchschnittlich etwa zweiminütigen Stücke, die im vorliegenden Band ediert werden, sind dafür typisch. Sie lassen sich als Gelegenheitswerke bezeichnen, die für spezielle Anlässe entstanden, fügen aber dem Bild, das man vom Komponisten Henze hat, dennoch interessante Facetten hinzu.
Als „Albumblätter“ hätte man sie wohl in früherer Zeit bezeichnet (und tatsächlich greift Henze bei einer seiner Kompositionen auf diese für das 19. Jahrhundert typische Überschrift zurück). Oft sind die Widmungsträger, mit denen Henze freundschaftlichen Umgang pflegte, in den Titeln direkt oder leicht verschlüsselt angesprochen: im „Piece for Peter“ (dem Pianisten Peter Serkin gewidmet), im „Klavierstück für Reinhold“ (gemeint ist Reinhold Kreile, damaliger GEMA-Präsident) oder in „Das Haus Ibach“, das der Klavierbau-Firma dieses Namens gedenkt.
Etwas kryptischer wirkt der Titel „Ode al 12mo Apostolo“: Er huldigt Matthias Winner, dem einstigen Direktor der römischen Bib­liothek „Hertziana“. Ohne ausdrückliche Widmung kommt das „Clavierstück“ im „Tempo eines sehr langsamen Walzers“ aus, obwohl es anlässlich des 60. Geburtstags von Friedrich Wanek, dem Henze betreuenden Lektor des Schott-Verlags, entstand.
Man täusche sich nicht: Die hier veröffentlichten Stücke sind trotz ihrer Kürze (mit einer Ausnahme wurden sie umblätterfrei auf einer Doppelseite gedruckt) pianistisch anspruchsvoll. Was in den ersten Takten oft noch recht simpel beginnt, erweitert sich rasch zu komplizierter Metrik, kunstvoller Überlagerung vertrackter, nur schwer koordinierbarer Rhythmen sowie zu einem Klaviersatz von enormer Griffweite und -dichte, der bis zur Notation auf drei Systemen führt. Im Einzelfall muss sich der Spieler fragen, wie der Notentext überhaupt realisierbar sein soll, nämlich bei der ausdrücklich so bezeichneten „Climax“ der „Ode al 12mo Apostolo“, wo Dichte und Umfang der Akkordik ins Extrem geführt ist.
Eine bogenförmige Entwicklung nehmen nicht nur dieses, sondern die meisten der sechs Stücke: einem leichtgewichtigen Anfang folgt eine kompositorische, klangliche und pianistische Expansion, bevor eine Gegenbewegung neuerlich den Zustand der Ruhe anstrebt. Etwas abseits von diesem Formmodell steht das schon angesprochene „Albumblatt“, ein Andante cantabile, das wie ein langsamer, melodisch weit ausgreifender Walzer in durchsichtigem, zweistimmigem Satz gehalten ist und zumindest technisch keinerlei Ansprüche an den Spieler stellt.
Gerhard Dietel