Klug, Heiner

Das Medium ist die Botschaft

Das Internet als Chance, Musik wieder auditiv zu vermitteln

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 4/2013 , Seite 06

Die Integration des Internets in den Instrumentalunterricht muss kein Zugeständnis an die SchülerInnen oder gar ein fauler Kompromiss sein. Im Gegenteil: Der Einbezug neuer Medien begleitet den Weg in die Zukunft der Musizierpädagogik.

Einer meiner Kollegen besitzt mehrere Brillen. Manchmal hat er eine auf der Nase, eine andere in der Hand und versucht versehentlich, diese zusätzlich aufzusetzen. Er hat den Zustand seines Gesichts in diesem Moment offensichtlich nicht bewusst vor Augen. Ihm ist nicht gewärtig, dass er seine Umgebung bereits durch ein Medium betrachtet.
Dass man Medien irgendwann selbst nicht mehr wahrnimmt, „durch sie hindurch schaut“, ist vollkommen typisch. Wie die Brille befindet sich jedes Medium (lateinisch für „Mittler“) zwischen Individuum und Welt und vermittelt zwischen beiden. Über das Medium denkt man im täglichen Leben nicht mehr nach, man kann es vergessen und erlebt das Wahrgenommene als scheinbar direkte, ungebrochene Realität. Das Medium ist dann gewissermaßen zur Körpererweiterung geworden. Es wird zum Bestandteil des Wahrnehmungsapparats.
Der Kanadier Marshall McLuhan (1911-1980), von dem dieser Gedanke stammt, ging noch einen Schritt weiter. Wenn ein Medium sich derart subtil zwischen uns und die Welt schiebt, dann erzeugt es uns ganz unterschwellig eine bestimmte Weltsicht. Dies gilt ganz besonders auch für die Musikkultur. McLuhan fasste seine wegweisende Erkenntnis in einem Satz zusammen, der in den vergangenen Jahrzehnten Flügel bekommen hat und den ich mir erlaubt habe, für den Titel dieses Artikels zu entlehnen. McLuhans Satz lautet im Original: „The media is the message.“

Medien prägen ­Wirklichkeiten

Man muss weder einen Science-Fiction-Roman lesen noch einen Prototyp der Datenbrille Google Glass aufsetzen, um Beispiele dafür zu finden, wie Medien Wirklichkeiten prägen. Im Gegenteil, McLuhan beschreibt ein einfaches und alltägliches Phänomen, das auch MusikpädagogInnen bestens kennen: Lehrer und Schüler leben in unterschiedlichen Welten. Musikerinnen und Musiker, deren Leben noch von der Drucktechno­logie geprägt ist, und Jugendliche, die in der virtuellen Realität des Internets leben, sprechen, wenn es um Musik geht, zweierlei Spra­chen – sie tragen unterschiedliche Brillen.
Für Jugendliche, die mit dem Internet aufwachsen, wo die Suchmaschine in Sekundenbruchteilen Text, Noten und Video eines gewünschten Musiktitels ausspuckt, ist es fast bedeutungslos geworden, ob die künstlerischen Inhalte, auf die sie zugreifen, einen Wert besitzen. Hier gilt die Erfahrung, dass Informationen unmittelbar und kostenlos zur Verfügung stehen. Diese aus bildungsideologischer Sicht einerseits begrüßenswerte Tatsache stellt andererseits traditionelle Werte infrage. Die Errungenschaft, dass Komponisten und Texter an der Verwertung ihrer Werke beteiligt werden, ist gerade einmal ein Jahrhundert alt – nun scheint sie aus dem Bewusstsein schon wieder zu verschwinden.1

1 vgl. Heiner Klug: „100 Jahre GEMA: Durchschnittliche Lebenserwartung überschritten – Kritische Anmerkungen zum Tod des Musikwerks“, in: Volker Kalisch (Hg.): Synästhesie in der Musik – Musik in der Synästhesie, Essen 2004, S. 175-185.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2013.