Schweinbenz, Jörg

Ohne Melodie keine Musik. Oder?

Einführung in die kreative Improvisation mit nur einem Ton

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 3/2013 , Seite 34

Improvisation lässt sich üben! Krea­tivität lässt sich üben! Bloße Schlag­worte oder die Wahrheit? Schlägt man die Worte “kreativ” oder “Kreativi­tät” nach, liest man in manchen Artikeln, dass kreativ sei, wer seine zur Verfügung stehenden Mittel zur Lösung von Aufgaben nutze. In anderen steht, kreativ sei, wer neue Mittel finde oder erfinde, um die gestellte Aufgabe zu lösen. Kreativität bedeutet also, vereinfacht ausgedrückt, die Fähigkeit zum Lösen von Aufgaben.

„Improvisier’ doch mal!“ – Kaum ein Schüler oder eine Schülerin wird dieser Aufforderung gerne nachkommen oder nachkommen können. „Was denn?“, wird im Normalfall die berechtigte Gegenfrage sein. Es ist bekannt, dass das Improvisieren leichter fällt, je begrenzter das Gebiet ist, innerhalb dessen ­improvisiert werden soll: „Improvisiere über einen Blues und verwende nur die Blues-Skala.“ Das funktioniert in der Regel ganz gut, weil die Angst vor falschen Tönen oder Rhythmen weitgehend genommen ist. Und es klingt oft ansprechend, weil der Lehrer so schön mitgroovt.
„Improvisiere mit nur einem einzigen Ton!“ – Jetzt bekommt man schon ein bisschen Angst: Weil man dann keine Musik mehr machen kann, weil Musik Melodie ist und ohne Melodie gibt es keine Musik – oder? Fest steht: Wir haben eine Aufgabe, und zwar eine sehr schöne, wie ich finde. Vollkommen richtig ist, dass wir keine Melodie im herkömmlichen Sinne bilden können, dazu fehlen die unterschiedlichen Töne. Aber was können wir tun? Und so langsam wird klar, dass andere Parameter in den Vordergrund rücken: Rhythmus, Lautstärke, Artikulation, Phrasierung, Klangfarben, Spielweisen, Intonation, Klangqualität.
Mit dem Fokus auf den Parameter Klangfarbe könnte die vorherige Aufgabe präziser lauten: „Improvisiere mit einem einzigen Ton und erzeuge dabei so viele verschiedene Klangfarben wie möglich. Am besten lasse die Töne jeweils lange klingen und lausche ihnen nach.“ – Fast eine Komposition, ich ­höre dabei innerlich ein Musikstück. Daraus resultiert eines der wichtigsten Ziele für Lehrende der Improvisation: Die Musik muss schon vorausgehört werden, um sie in eine Improvisationsaufgabe zu „verwandeln“.

„Improvisier’ doch mal!“ – „Was denn?“, wird im ­Normalfall die berechtigte Gegenfrage sein.

Oder: „Improvisiere mit einem Ton und verwende dabei deine drei Lieblingsrhythmen.“ – Lieblingsrhythmen? Eine schöne Möglichkeit, sich über Rhythmus im Allgemeinen Gedanken zu machen und Entscheidungen zu treffen, welche Rhythmen einem gut liegen oder nicht. Unbedingt aufschreiben, in Noten. Zum Beispiel fünf bis acht Rhythmen gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern erarbeiten, anschließend drei davon auswählen – und los geht die Improvisation.
Diese Aufgabe hat es in sich, weil man sehr schnell erkennt, wie wenig Rhythmen man aus dem Stand zur Verfügung hat. Ich selbst spiele auch immer das Gleiche, wenn ich mich nicht vor einem Improvisationsauftritt zwinge, verschiedene Möglichkeiten zu erarbeiten. Es kann nur das herauskommen, was drin ist! Und drin bedeutet: verinnerlicht, in den Fingern, in Fleisch und Blut, im Schlaf vorwärts und rückwärts – genau deswegen muss ein Improvisationskonzert ebenso intensiv vorbereitet werden wie ein „klassisches“ Konzert.
Was mit Stimme, Streichinstrumenten, Blasinstrumenten, also kurzum mit allen Instrumenten außer Tasteninstrumenten sehr gut funktioniert: „Improvisiere mit nur einem Ton, intoniere aber jedes Mal etwas anders: mal tiefer, mal höher, beweglich mit Mini-Glissandi. Versuche dabei so aufregend wie möglich zu klingen – stelle dir zum Beispiel eine spannende Szene in einem Film vor.“

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2013.