Schulte im Walde, Christoph

Kulturelles Handeln hat soziale Konsequenzen

Gespräch mit Bernhard Wulff über Musik fremder Kulturen und ihre Bedeutung für unser eigenes Hören

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 3/2013 , Seite 44

Bernhard Wulff studierte Dirigieren, Komposition und Schlagzeug in Hamburg, Freiburg, Basel und Siena und ist Professor für Schlaginstrumente an der Freiburger Musikhochschule. Viele Jahre war er Schlagzeuger im Basler Radiosinfonieorchester. Er gründete diverse Ensembles für Neue Musik in Europa und Lateinamerika und wirkt als Dirigent und Gastprofessor in Europa, Südamerika, in den USA, in Japan, Zentralasien und in Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Er entdeckte und rekonstruierte die sinfonischen Werke des im KZ Theresienstadt ermordeten Viktor Ullmann und ist Gründer und künstlerischer Leiter verschiedener internationaler Musikfestivals, darunter “Two Days, two Nights” (Odessa), “Roaring Hooves” (Mongolei/Wüste Gobi) oder “Cracking Bamboo” (Vietnam).

Herr Wulff, Sie waren vor wenigen Monaten in der Ukraine, dann kurz wieder hier in Deutschland, an – schließend in der Mongolei und Argentinien und vor Kurzem in Thailand und Vietnam. Gibt es eigentlich einen Fleck auf der Erde, den Sie noch nicht bereist haben?

Ja, die Arktis! Und auch die Antarktis (lacht). Seltsamerweise war ich aber auch noch nie in Australien, obwohl ich da gute Freunde habe, die mir sagen: „Komm doch mal vorbei!“ Mental bin ich aber dem Kontinent sehr verbunden. Denn da gibt es Spannendes zu entdecken: zum Beispiel die Gesänge der Aborigines. Die singen ja ihre Landkarten durch die Wüste – dort, in dieser Land – schaft gehört das Musizieren also zum Überleben! Das möchte ich auch einmal miterleben. Zum einen gibt es dort Lieder, in denen bestimmte Wege beschrieben werden. Und dann wird Singen praktiziert als intuitives Orakel: Da singt der Clan stundenlang, für unsere Ohren etwas monoton, aber doch sehr, sehr fein differenziert. Irgendwann taucht dann in dieser „Litanei“ ein neues Motiv auf, keiner weiß, wer damit begonnen hat. Das heißt dann soviel wie: „Packt die Koffer, es geht Richtung Sonnenuntergang!“ Und das Kollektiv bricht auf, geleitet durch dieses Orakel und einer kleinen winzigen motivischen Arbeit. Auch wenn ein Hindernis kommt, eine Schlucht oder ein Fluss, wird wieder das Orakel befragt. Am Ende kommen sie immer ans Ziel. So etwas ist total faszinierend, hat aber auch brutale Konsequenzen: Wenn der Clan feststellt, dass irgend jemand mutwillig ein falsches musikalisches Motiv da hineinstreuen will, wird er getötet, denn er gefährdet die Gemeinschaft!

Das klingt in der Tat sehr hart – und führt uns direkt zum Thema „fremde Kulturen“. Wie kam es bei Ihnen zu der Beschäftigung damit?

Mich hat der Oberbegriff Musik in all seinen Facetten immer fasziniert. Ich habe mich auch in ganz vielen Teilbereichen bewegt und diese auch ausgeschritten. In meine Studienzeit in Hamburg beispielsweise fällt die Gründung eines Ensembles für Alte Musik – ich war da mit einigen Kommilitonen sehr aktiv. Zumal es solche Ensembles damals in Hamburg kaum gab. Ich habe mir von meinem ersten selbst verdienten Geld ein Spinett gekauft. Deshalb ist mir diese Literatur bis heute sehr vertraut. Wir haben das zum Brötchenverdienen gemacht…

Aber Sie haben damals damit eine neue Nische aufgetan…

Ja, das ist richtig. Gleichzeitig begann für mich die Beschäftigung mit der Neuen Musik, was mit meiner instrumentalen Ausbildung zusammenhing. Ich hatte Klavier und Schlagzeug studiert, kam dann nach Basel und war dort viele Jahre als Soloschlagzeuger im Radioorchester tätig. Aber schon in Hamburg habe ich die Literatur für Schlagzeug entdeckt – und das ist ja im Wesentlichen Neue Musik, die des 20. Jahrhunderts, auch wenn diese Instrumente alte Vorfahren haben. Das Ganze war so etwas wie ein Balanceakt zwischen beruflicher Ausbildung und künstlerischer Bildung. Dass man auf der einen Seite seinen Lebensunterhalt verdienen kann in einem Orchester – mit sehr dankbaren Aufgaben; zeitgleich kam ich aber auch in Kontakt mit vielen anderen interessanten Aufgaben. So gründete ich diverse Ensembles für zeitgenössische Musik, war als Gastdirigent von Sinfonieorchestern tätig, studierte Komposition und rekonstruierte die sinfonische Musik von Viktor Ullmann aus dessen Zeit im KZ Theresienstadt.

Wie sind Sie zur außereuropäischen Musik gekommen?

Ich hab das nicht gezielt gesucht, es hat mich eher da – hin geweht. Hier an der Hochschule in Freiburg unterrichte ich seit nun bald 40 Jahren. Und wenn man sich intensiv mit den Schlaginstrumenten auseinandersetzt und sich nicht reduziert auf die Aufgaben als Schlagzeuger im Orchester, dann hat man enorm viel Anknüpfungspunkte: Musikethnologie, zeitgenössische Musik sowieso, aber auch Instrumentenbau, akustische Physik, Musiktherapie im weitesten Sinne, Musikpädagogik. Wir haben hier in Freiburg neue pädagogische Modelle entwickelt, die sogar auch mit Preisen gekrönt wurden. Es gab also einen praktischen Anlass, mich auf diese außereuropäischen Musikkulturen einzulassen. Ich war zehn Jahre Prorektor meiner Hochschule und zuständig für Auslandsbeziehungen. Da haben wir erste Partnerschaften gegründet mit Eastman (USA), Rochester und diese Programme mit Leben zu füllen. Insbesondere das in Odessa. Daraus entstand das alljährliche Festival „Two Days, two Nights“.

Erzählen Sie uns mehr darüber…

Das Festival war von Anbeginn eine wunderbare Plattform für die Begegnung von Musikern aus Ost- und Westeuropa. Da bestand ja ein enormes Informationsvakuum. Die Osteuropäer kannten ja nicht einmal ihren Strawinsky – da wirkte dieses Festival wie eine Hormonspritze und hat der Musikszene nicht nur von Odessa, sondern auch der ganzen Region enorm viele Informationen präsentieren können. Kurz und gut: Das Festival ist bis heute super lebendig. Die Leute sitzen da bis morgens um vier oder fünf Uhr, wollen gar nicht nach Hause gehen und erleben Neue Musik als sinnliche Erfahrung. Es ist also nicht ein Expertenfestival, es kommen viele junge Leute – das Ganze bekam Kultcharakter. Und das hat sich herumgesprochen. Eines Tages kam eine Delegation aus der fernen Mongolei. Man hatte auch dort nach der politischen Öffnung den Wunsch, Informationen über die kulturelle Entwicklung im Rest der Welt zu bekommen. Und so schaute man sich internationale Festival-Präsentationsformen in ehemaligen Bruderstaaten an. Ich erhielt dann ganz offiziell eine Anfrage vom Kulturministerium von Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei, ob ich behilflich sein könnte zur Entwicklung eines Konzepts für eine Festivalidee.

Und dieses Festival heißt „Roaring Hooves“.

Genau! Und das feiert 2014 seinen 15. Geburtstag. „Roaring Hooves“ sind Konzerte für Nomaden in der Wüste Gobi – und zwar mit zeitgenössischer komponierter Musik aus aller Welt und traditioneller mongolischer Musik.

Warum ausgerechnet für die Nomaden in der Wüste Gobi?

Das fragen mich alle! Wenn man nicht selbst dort gewesen ist, dann versteht man eigentlich schwer, warum das der überhaupt beste Ort für Neue Musik ist. Denn: Es ist kein Weltmusikfestival, auch kein Crossover. Aber wir stellen die traditionelle Musik der Mongolen der Neuen Musik aus westlichen Ländern gegenüber. Einen Obertonsänger beispielsweise – man kennt vielleicht die mongolischen Obertonsänger, die ihren Kehlkopf spalten können – das ist eine Art „Filtersystem“ des Kehlkopfs. Das ist der Urgroßvater unserer elektronischen Filtersysteme! Also ist das gar kein Problem, anschließend elektronische Musik aufzuführen. Die Pferdekopfgeige der Mongolen klingt wie eine Gambe, also kann man anschließend auch ein Stück für Cello oder Bratsche spielen. Wir versuchen, uns auf gleicher Augenhöhe durchs Programm zu bewegen. Das interessante Resultat ist dann: Wir hören einen Obertongesang, der für uns fremd und neu ist, obwohl über tausend Jahre alt, mit den Ohren der Neuen Musik. Und die Mongolen hören unsere Neue Musik mit den Ohren ihrer Volksmusik. Ich habe einen Nomaden mal gefragt, was er von einem soeben gehörten Stück von Steve Reich oder Iannis Xenakis halte. Er sagte mir, es klänge wie eine seltsame Volksmusik von einem Volk, das er nicht kenne, aber noch gerne kennen lernen wolle. Das finde ich natürlich eine zauberhafte Antwort. Etwas Besseres gibt es gar nicht – weil er genau verstanden hat, worum es geht, dass man unvoreingenommen sich auf so etwas einlassen kann, vorurteilsfrei. Und es ist natürlich auch so, dass den Nomaden in der Wüste ansonsten nicht sehr viel geboten wird. So kommen sie dann auf dem Pferd zu uns. Um sie zu erreichen, zu informieren, haben wir eine besondere Form des Kulturmanagements entwickelt. Es gibt ja keine Medien, keinen Baum für ein Plakat. Es gibt nur die Mund-zu-Mund-Propaganda. Um diese zu aktivieren, wird ein Sportfest mit Musik angekündigt. „Roaring Hooves“ ist für die Mongolen beides. Wir laden sie alle ein, organisieren ein berühmtes mongolisches Triathlon. Pferderennen, Bogenschießen und Ringkampf – das einzige Musikfestival der Welt, zu dem ein paar hundert Reiter gehören, ein paar Dutzend Ringkämpfer und Bogenschützen! Wenn man das ankündigt, dann kommen sie aus der letzten Bergfalte angeritten, um sich mal im Staub zu wälzen. Anschließend laden wir sie ein und sagen: Okay, wir reiten ein paar Kilometer weiter zur letzten Sanddüne links und hören uns mal seltsame Musik an. Können Sie sich vorstellen, was das für Bilder sind? Obwohl diese Aufführungen nicht reproduzierbar sind, war der Fernsehsender Arte schon mal da und nannte das Festival das schönste Kulturereignis, das sich denken lässt. Und die Zeitschrift GEO setzte es auf die Liste der unglaublichsten Reisen der Welt.

Da wäre ich auch gern dabei gewesen!

Herzlich gerne, Gäste sind willkommen! Das „Roaring Hooves“-Festival ist in sich stimmig, nicht nur skurril! Weil die Neue Musik etwas Naturhaftes bekommt. Sie ist oft der Natur viel näher als Mozart … Sie verliert den Anspruch von gut oder böse oder schlecht, von jeglicher Subjektivität, wirkt eher wie ein Naturereignis, wie der Niagarafall oder ein schiefer Baum. Das bekommt sowohl der Neuen Musik gut als auch ihren Hörern, die mit einem Mal etwas wahrnehmen in einem völlig neu en Kontext. Und das ist der eigentliche Kern der Geschichte. Ich gehe da ja nicht hin, um zu missionieren, sondern um ein Angebot an die Sinne zu machen. Das Gleiche gilt für die Projekte in Vietnam mit den Konzerten für Fischer in den Inselhöhlen der Halong Bay.

Kann das auch etwas für uns Europäer bedeuten im Hinblick auf die Rezeption Neuer Musik?

Ich betreibe hier bei uns ja auch seit Jahrzehnten die Vermittlung zeitgenössischer Musik. Das ist oft ein Spezialpublikum, das wissen wir alle. Bei den Nomaden fühle ich mich viel heimischer, weil die völlig unaufgeregt erst einmal alles wahrnehmen und dankbar sind. Es ist für sie auch eine Attraktion, ja! Was bei uns etwas verloren geht bei der Präsentation von Musik allgemein, ist die sinnliche Attraktion. Wenn wir alte Programmzettel einer so genannten „Akademie“ aus Beethovens Zeit lesen – das waren ja unglaubliche Sachen, fast wie im Varieté… Da wurde zu Beginn der erste Satz einer neuen Sinfonie gespielt, dann kam anschließend Lieschen Müller und gab ihr Debut als Sängerin, dann gab’s schnell noch ein Streichquartett und erst danach gab es den zweiten Satz aus der Sinfonie. Man war da irgendwie völlig ungezwungen. Und wenn die Klarinette eine schöne Kantilene hatte, gab es Applaus wie heute nur noch beim Jazz. Das ist uns völlig abhanden gekommen, alles ist ritualisiert und oft zu keimfrei. Ich habe viel Erfahrung gesammelt, zeitgenössische Musik in Konzerten mit Musik anderer Kulturen zu ver – knüpfen. Da ist die Bereitschaft zuzuhören viel eher gegeben, als sich von vornherein „nur“ auf ein Streichquartett von Nono oder Feldman einzulassen – wo man aber genau diese Entdeckungsreisen auch machen kann! Neue Musik schafft die Möglichkeit, das Verständnis des Fremden zu transportieren. Insofern, und das wäre mir wichtig, hat kulturelles Handeln soziale Konsequenzen – Nichthandeln auch! Hören ist natürlich immer mit der Eigenleistung des Hörers verbunden. Schon wenn ich mir eine Bach-Fuge anhöre. Oder eine Sonatenhauptsatzform. Die Eigenleistung besteht im Nachvollzug. Je öfter ich ein Stück gehört habe, umso vertrauter und schöner finde ich es, weil ich alte Bekannte treffe.

Da wird die Eigenleistung des Hörers dann geringer…

Es geht auch um die Frage des Hinführens an den Gedanken, dass Hören immer etwas Aktives ist. Schauen Sie auf die jungen Leute von heute, die ja offenbar statistisch einen immer höheren Intelligenzquotienten vorweisen. Aber sie neigen auch aufgrund der neuen Medien, den vielen kleinen elektronischen Spielzeugen, die ihnen so vieles abnehmen, dazu, nicht mehr wirklich durch ein dickes Brett zu bohren, um zu einem Er gebnis zu kommen, weil ihnen dünne Bretter angeboten wer – den. Und natürlich spielt der Einfluss der Globalisierung eine große Rolle. Wir fahren ja nicht mehr in die Lüneburger Heide, sondern in die Dominikanische Republik. Und wir gehen beim Vietnamesen oder Chinesen essen. Allerdings interessiert man sich nicht wirklich für den kulturellen Hintergrund! Im Hinblick auf die Mongolei ist es vielleicht noch ein Sonderfall: Wer dort hingeht, kann nicht im Sinn haben, am Strand zu liegen. Das ist immer mit einer Anstrengung verbunden. Es sind meist Reisende, die etwas von Land und Leuten kennen ler – nen, etwas erleben möchten – nicht nur die schöne Natur.

Wie geht es weiter mit Ihrer Arbeit?

Ich suche weiter nach authentischer traditioneller Musik fremder Kulturen, also das undomestizierte Original! Wo sozusagen der Wind der Steppe noch weht… Das ist immer seltener! Und ich bin mir ganz sicher: Nonverbale Kulturvermittlung ist das A und O! Dazu dienen die von mir ins Leben gerufenen Festivals in ganz verschiedenen Regionen dieser Erde. Da verstehe ich mich als Impulsgeber! Und freue mich über all die Aktivitäten vor Ort, über die Babys, die dann unabhängig von mir laufen lernen.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2013.