Ye, Xiaogang

Poem of China

for violoncello and piano op. 15

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2012
erschienen in: üben & musizieren 3/2013 , Seite 63

Immerhin haben wir es mit einem Komponisten zu tun, der olympische Höhen erklommen hat: Xiao­gang Yes Klavierkonzert Starry Sky wurde während der Eröffnungsfeier der Pekinger Olympiade 2008 uraufgeführt. Dass sich der Komponist in seiner Heimat großer Wertschätzung erfreut, lässt sich hieraus zweifelsfrei ablesen. Und dass Künstler, denen solche Privilegien zuteil werden, im Westen Skepsis evozieren, ließ sich jüngst anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises an Mo Yan beobachten.
Blicken wir also, jenseits ideologischer Voreingenommenheiten, auf das Werk selbst: Man könnte, im Rückgriff auf kompositorische Modelle der europäischen Romantik, Poem of China als Fantasie bezeichnen. Mehrere Abschnitte in unterschiedlichen Tempi fügen sich zu einem großen durchkomponierten Satz. Es lassen sich einige Hauptthemen isolieren, die in den einzelnen Abschnitten wiederholt auftreten und zum Gegenstand von Durchführungsarbeit werden.
Dies gilt insbesondere für das lapidare, auf eine traditionelle chinesische Melodie zurückgehende Eröffnungsthema: Das Cello stellt es zu Beginn des einleitenden „Senza misura“-Abschnitts vor, danach wird es zum zentralen Gedanken des anschließenden Larghetto. Es kehrt wieder im letzten größeren Formteil des Werks, Allegro vivace, und erscheint in apotheotischer Überhö­hung in den Fortissimo-Schluss­­takten des Poems.
Als formbildendes Prinzip der ge­samten Fantasie fungiert die stu­fenweise Beschleunigung: Ausgehend vom erwähnten Larghetto (Viertelnoten = 76) steigert sich das Tempo Abschnitt für Abschnitt bis hin zum Più mosso (Viertelnoten = 186), das in Takt 214 erreicht ist und seinerseits, über eine weitere „Senza misura“-Episode, in den pathetischen Lento-Schluss einmündet.
Hinsichtlich seiner technischen Anforderungen bietet der Cellopart einiges: lange kantable Passagen in der Daumenlage, viele Akkorde und Doppelgriffe. Andererseits ist die musikalische Faktur des Stücks einfach gehalten, die funktionsharmonische Basis wird niemals gefährdet. Im Gegenteil: Die Melodik des gesamten Poems basiert geradezu demonstrativ auf traditionellen Dur-Moll-Modellen, oder besser: auf chinesischer, pentatonischer Motivik, die der Komponist einbindet in eine von westlicher Musik geprägte Tonalität.
Fazit: Poem of China – 1981 komponiert, 1982 in Peking erstaufgeführt und im selben Jahr in den USA beim Alexander-Tcherepnin-Kompositionswettbewerb ausgezeichnet – ist ein umfangreiches, gut gemachtes Stück, das die Spieler einiges an physischer Kraft kostet und ihnen zugleich, bei entsprechender technischer Realisierung, einen effektsicheren Vortragserfolg garantiert. Es mag legitim sein, Werke, die unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen der chinesischen Gesellschaft entstehen und präsentiert werden dürfen, per se abzulehnen. Dies darf uns nicht hindern, ihre immanenten Qualitäten anzuerkennen. Poem of China verfügt allemal über solche Qualitäten.
Gerhard Anders