Steffen-Wittek, Marianne

Die „Befreiung“ des Körpers

Die bewegungsexperimentellen Körperverfahren von Elsa Gindler, Dore Jacobs und Gerda Alexander wirken bis in unsere Zeit

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2011 , Seite 12

Verfahren, die sich mit der Ökonomisierung der menschlichen Bewegung befassen, beeinflussten die Ent­wicklung der Künste, der Sport- und Musikagogik, der medizinischen und psychosomatischen Therapie. Im Folgenden werden drei Gründerinnen ­bewegungsexperimenteller Körperverfahren, die einen wesentlichen Beitrag zum Bewegungslernen allgemein sowie zum Bewegungs­verständnis in der musikpäda­gogischen Arbeit geleistet haben, näher beleuchtet.

Elsa Gindler (1885-1961) zählt zu den Begründerinnen heutiger wahrnehmungsorientierter Körperverfahren. Sie absolvierte um 1910 eine Ausbildung bei Hedwig Kallmeyer, schlug aber früh eigene Wege zur praktischen Erforschung bewegungsexperimenteller Möglichkeiten ein. Gindler war 1925 Mitbegründerin des 1933 aufgelösten Deutschen Gymnastikbunds, in dem sie großen Einfluss auf die Entwicklung der modernen Gymnastik hatte. „Ihr ist es im Wesentlichen mit zu verdanken, dass die gymnastische ­Bewegung ihr Ziel in der Pflege von Bewegungsfähigkeit und Bewegungssinn des Menschen fand.“2 Ab 1926 arbeitete Elsa Gindler mit dem Musikpädagogen Heinrich Jacoby zusammen. Sie half während der nationalsozialistischen Herrschaft rassisch und politisch Verfolgten. 1945 wurde ihr gesamtes dokumentarisches Material (Filme, Fotos, Manuskripte) durch Kriegseinwirkungen vernichtet. Bis 1960 gab sie Kurse in Berlin.
Dore Jacobs (1894-1979) hatte als Kind Rhythmikunterricht bei dem Dalcroze-Schüler Otto Blensdorf und absolvierte um 1911 eine Rhythmikausbildung bei Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau. Jacobs versuchte, „in der Auseinandersetzung mit anderen Gymnas­tiksystemen, mit der Bewegungslehre von Laban und mit der Atemschule Schlaffhorst-Andersen dem Wesentlichen von Bewegung auf die Spur zu kommen“.3 Von 1914 bis 1923 gab sie Kurse für Laien und entwickelte ihr experimentelles Verfahren einer Körper- und Bewegungserziehung. Seit 1923 gab sie Fortbildungen in rhythmischer Bewegungs­erziehung und Körperbildung und gründete 1925 die „Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung“ in Essen. 1933 wurde die Schule geschlossen und Jacobs lebte bis 1945 im Untergrund (sie stand dem „Bund – Gemeinschaft für sozialistisches Leben“ nahe). 1945 setzte sie ihre Arbeit an der wiedereröffneten Schule fort, die 1953 die staatliche Anerkennung als Berufsfachschule für Gymnastik erhielt. Die „Dore-Jacobs-Schule“ in Essen bildet auch heute noch GymnastiklehrerInnen aus.
Gerda Alexander (1908-1994) ist die Begründerin der Eutonie. Sie hatte als Kind ebenfalls Rhythmik-Unterricht bei Otto Blensdorf, studierte später Rhythmik in Berlin und schloss ihr Studium 1929 mit der staatlichen Prüfung ab. Zunächst arbeitete sie als Rhythmiklehrerin in Berlin, musste aber 1933 emig­rieren. „Die Entstehung ihrer heute weltweit verbreiteten Lehre begann mit eigenen Heilungsversuchen,4 bei der sie auch ihre Kenntnisse als Rhythmiklehrerin einfließen ließ. […] Sie war immer auf der Suche nach der guten, ökonomischen Bewegung.“5 Gerda Ale­xander organisierte 1959 einen Körpererziehungskongress, zu dem sie Fachleute wie Moshé Feldenkrais und Frank Pierce Jones (Vertreter der F. M. Alexander-Technik) einlud. Ihr Wunsch, die Kongressergebnisse zu dokumentieren und die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Verfahren zusammenzutragen, blieb leider unerfüllt. Von 1946 bis 1972 arbeitete sie mit Mitgliedern des staatlichen Rundfunkorchesters in Kopenhagen. „Der ärztliche Bericht eines dreimonatigen Versuches mit den Orchestermitgliedern dokumentiert einen großen Behandlungserfolg.“6 Wie Elsa Gindler und Dore Jacobs hatte Gerda Alexander Bedenken, ihr Verfahren als ein festgeschriebenes System darzustellen. Im Vorwort ihres Buchs äußert sie die „Sorge, dass das, was für mich täglich neue Entdeckung wird, durch die Fixierung erstarren könnte…“.7

Bewegungskultur und Lebensreform

Elsa Gindler, Dore Jacobs und Gerda Alexander entwickelten ihre praktisch-forschende Spür- und Bewegungsarbeit im Zuge der lebens­reformerischen Umwälzungen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts stattfanden. Gabriele Klein sieht den Ausgangspunkt der Lebensreformbewegung in „der Naturheilkunde als Antwort auf die Anfänge der modernen naturwissenschaftlich orientierten Medizin“.8 Die Umbrüche vollzogen sich nach Klein in drei Phasen:
1. die Naturheilstätten mit Licht- und Luft-Therapien: Sie entstanden Mitte des 19. Jahrhunderts alternativ zur Schulmedizin;
2. die Idee und Umsetzung von Siedlungs­genossenschaften, zu denen u. a. die Gartenstadt Hellerau mit der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze (Rhythmik) und die Künstler­ansiedlung am Monte Verità in Ascona mit der Schule für Bewegungskunst von Rudolf von Laban zählten. Von beiden Stätten gingen wichtige Impulse zur Entwicklung einer neuen Bewegungs-, Musik- und Tanzpädagogik aus;
3. die Freikörperkultur, bei der es nicht nur um Gesundheit, sondern um die „Schönheit des natürlichen Körpers“ ging.

1 vgl. Klaus Moegling: Ganzheitliche Bewegungserziehung. Pädagogische Bewegungslehre und Pädagogische Bewegungspraxis, Butzbach 1999, S. 72 f.
2 Franz Hilker: „Dem Andenken einer großen Pädagogin“, in: Bildung und Erziehung 1/1961, wieder veröffentlicht in: Peggy Zeitler (Hg.): Erinnerungen an Elsa Gindler, München 1991, S. 138.
3 vgl. Reinhard Ring/Brigitte Steinmann: Lexikon der Rhythmik, Kassel 1997, S. 135.
4 Hier zeigen sich Parallelen zu Elsa Gindler, aber auch zu F. M. Alexander und Moshé Feldenkrais, die alle aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen zur Selbstbeobachtung und Selbstheilung fanden.
5 Ring/Steinmann, S. 8.
6 ebd., S. 9.
7 Gerda Alexander: Eutonie. Ein Weg der körperlichen Selbsterfahrung, München 61986, S. 16.
8 vgl. Gabriele Klein: Frauen, Körper, Tanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, München 1992, S. 135.

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