Kreutziger-Herr, Annette / Melanie Unseld (Hg.)

Lexikon Musik und Gender

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2010
erschienen in: üben & musizieren 2/2011 , Seite 61

Noch sind wir weit von einer ­symmetrischen Musikgeschichts­­schreibung entfernt. Und deswegen sind Lexika wie dieses notwendig. Die Zusammenarbeit der Herausgeberinnen und der Autoren und Autorinnen war fruchtbar und von großem Fleiß geprägt, denn das „Lexikon Musik und Gender unternimmt erstmals im deutschsprachigen Raum den Versuch, sowohl die Historie des Geschlechterdiskurses als auch der Musikgeschichte und Musikwissenschaft unter dem Aspekt Gender lexikalisch zusammenzuführen“.
Bei diesem hohen Anspruch nimmt es nicht Wunder, dass ein mehr als 600 Seiten umfassendes Opus entstanden ist, das dennoch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und auch gar nicht erheben könnte. Die Entscheidung, warum genderspezifische Artikel über männ­liche Komponisten nicht aufgenommen wurden, hätte gar nicht unbedingt begründet werden müssen, aber: „Sie fehlen, weil das Fernziel einer symmetrischen Musikgeschichtsschreibung noch immer darauf angewiesen ist, die durch die begradigte Musikgeschichtsschreibung eklatant aufgeworfenen Lücken der Überlieferung zu schließen.“
Das Lexikon kann aufgrund der intensiv betriebenen Literaturstudien auch als Zusammenfassung des derzeitigen Forschungs­stands betrachtet werden – in einem weiteren Sinn als die herkömmliche Musikgeschichtsforschung. Musikgeschichte wird hier bewusst nicht kompositions­zentriert betrachtet, sondern vielmehr auf den jeweiligen his­torisch-gesellschaftlichen Kontext bezogen. Dies wiederum eröffnet teilweise hochinteressante neue Blickwinkel auf scheinbar Altbekanntes. Hier eröffnen sich auch ­Horizont erweiternde Be­trachtungen angrenzender Forschungsbereiche.
Dieser wohltuend weite Blick bezieht auch Frauen mit ein, die weder komponiert noch musiziert haben, aber dennoch Einfluss auf musikalische Entwicklungen hatten, sei es als Mäzeninnen, Zuhörerinnen, Briefeschreiberinnen oder „ästhetische Impulsgeberinnen“. Es werden also Ideengeschichte und Gendersysteme ganzer Jahrhunderte betrachtet, allerdings angenehm aufgelockert, zum einen durch anschauliches und abwechslungsreiches Bildmaterial, zum anderen damit, dass an ausgewählten Stellen Musikgeschichte mal gründlich durchgebürstet wird.
Das Lexikon untersucht aber nicht nur bereits vorhandene Musikgeschichtsschreibung, sondern es betritt auch Neuland. Oder es weist auf Forschungsbedarf hin, wie z. B. die Untersuchung der Situation an Musikhochschulen im Nationalsozialismus oder die wissenschaftliche Erforschung der Konzeptions- und Aktionskunst der Künstlerinnen Meredith Monk, Laurie Anderson oder jüngerer composer-performer.
Alles in allem ein lesenswerter Band, in dem es viel zu entde­cken gilt. Neuland eröffnet sich auch in den genderspezifischen Artikeln zu ungewöhnlichen Teilaspekten der Musikgeschichte wie in „Brief“ oder „Dekonstruktion“, „Ehe“ oder“ Erotik“.
Viola Karl