Mahlert, Ulrich

Das Glück des Musizierens erfahren

Glücksfähigkeit als Zielperspektive des Instrumental- und Vokalunterrichts

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 06

“Glückserfahrung” – dieses Wort nannten Studierende auf die Frage, was ihnen fehlen würde, wenn sie nicht musizieren könnten. Die Frage, wie sich “Glückserfahrung” zu anderen Motiven für musikalische Betätigung verhält, lässt sich leicht beantworten: Glückserfahrung kann als eine übergreifende, alle anderen Motive einschließende Kategorie, als eine Art motivationale Superformel gelten. Jedes Motiv, das Menschen zum Musizieren veranlasst, lässt sich als ein Streben nach Glückserfahrung interpretieren.

Bislang spielt das Phänomen „Glück“ in der Musikpädagogik kaum eine Rolle. Eine Ausnahme bildet in der Instrumentaldidaktik
die übepraktische Konkretisierung des Flow-­Konzepts von Mihály Csíkszentmihályi1 durch ­Andreas Burzik.2 Ist „Glück“ im Vergleich zu dem musikpädagogisch vielfältig diskutierten, konkretisierten, in aktuellen politischen Verlautbarungen oft gleichsam wie eine Monstranz gehandhabten Begriff „Bildung“ zu wenig seriös? Klingt er trivial? Ist er zu ­vage? Hat er möglicherweise negative Konno­­tationen? Lässt er an Hedonismus denken? Wie auch immer: Eine Beschäftigung mit dem Begriff Glück im Zusammenhang mit dem Erleben von Musik, dem Musizieren und auch dem Unterrichten erscheint lohnend, weil das übergreifende Motiv des Strebens nach Glück durch musikalische Aktivitäten kaum zu leugnen ist.
Menschen jeden Lebensalters suchen im Musizieren Glück. Wenn Eltern mit ihren Kleinkindern an Mutter-Kind-Kursen teilnehmen, wenn sie sie später zu Kursen in Musikalischer Früherziehung anmelden, möchten sie wohl vor allem, dass musikalische Betätigung ihren Kindern gut tut. Sie sollen Glück erfahren und glückliche Menschen werden durch Musik. Auch viele Erwachsene haben den Wunschtraum, musizieren zu lernen, sei es stimmlich oder instrumental, sei es als Anfänger oder im Anknüpfen an eine frühere musikalische Betätigung. Sie sehen das Musikmachen als Teil eines glücklichen Lebens. Und auch für alte Menschen ist das Streben nach Glück offenbar ein Hauptmotiv zum Musizieren. Eine von Heiner Gembris durchgeführte „Studie mit Mitgliedern von Seniorenorchestern […] ergab u. a., dass gesteigerte Lebensfreude und Lebensqualität, die Erzeugung von Glück und Sozialkontakten, das Fitbleiben und das Gemeinschaftsgefühl als die weitaus wichtigs­ten Nutzeffekte des Musizierens genannt werden“.3 Glück scheint hier die übergreifende Formel für die mit dem gemeinsamen ­Musizieren einhergehenden Erstrebnisse zu sein. Wer musiziert, wird allgemein als glücklicher Mensch vorgestellt.
Mit der Vorstellung des Musizierens verbindet sich eine Verheißung von Glück – und zwar einem nicht nur kurzfristigen, sondern einem andauernden Glück. So führte Bundespräsident Horst Köhler in seinem Grußwort zum 20. Musikschulkongress des Verbands deutscher Musikschulen in Berlin am 14. Mai 2009 aus: Kinder und Jugendliche machten, „wenn es gut geht und der Unterricht erfolgreich ist, die unersetzliche Erfahrung, etwas gelernt zu haben und zu können, was ihnen niemand mehr nehmen kann. Und ich glaube, dass es gerade in unserer Zeit wichtig ist, unverlierbare Schätze zu haben. Musizieren oder Singen können – das sind solche unverlierbaren Schätze.“4 Musizieren wird hier in eine Lebensperspektive eingebun­den: Für Köhler liegt der Wert des Musikmachens offenbar weniger in der Ermöglichung kurzfristiger Glückserlebnisse, sondern in der lebenslangen Verfügung über eine Glück spen­dende Tätigkeit. Bereits hier wird die in der Glücksforschung getroffene Unterscheidung zwischen aktuellem Glückserleben („state“) und Lebensglück („trait“) greifbar.5

1 Mihály Csíkszentmihályi: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992.
2 Andreas Burzik: „Üben im Flow. Eine ganzheitliche, körperorientierte Übemethode“, in: Ulrich Mahlert (Hg.): Handbuch Üben. Grundlagen – Konzepte – Methoden, Wiesbaden 2006, S. 265-286.
3 Heiner Gembris: „Musikalische Entwicklung im Erwachsenenalter“, in: Herbert Bruhn/Reinhard Kopiez/ Andreas C. Lehmann (Hg.): Musikpsychologie. Das neue Handbuch, Reinbek 2008, S. 183.
4 Horst Köhler: „Ein fester Platz für musikalische Bildung“. Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler zum 20. Musikschulkongress des Verbandes deutscher Musikschulen am 15. Mai 2009 in Berlin, www.bundesregierung.de/nn_1514/Content/DE/Bulletin/2009/05/58-1-bpr-musikschulkongress.html
5 s. Philipp Mayring: Psychologie des Glücks, Berlin/ Köln 1998, S. 87 ff.

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