Gamp, Judith

(Be-)glückender Unterricht?

Zur potenziellen Herstellung eines glücksähnlichen Zustands

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 24

Seit der Antike berichten Menschen von berauschenden Glückserlebnissen durch Musik. Was hat es damit auf sich? Die Selbstbestimmungs­theorie der Motivation von Edward L. Deci und Richard M. Ryan bietet einen Erklärungsansatz für dieses Phänomen und macht Vorschläge, wie Anstöße für ein solches Glückserleben beim Musizieren im Unterricht geschaffen werden können.

Glück beschreiben zu wollen, ist ein schwieriges Unterfangen. Was ist Glück? Aktives Streben oder Geschehen-lassen? Subjektiv empfundenes oder objektiv messbares Glück? Die Meinungen dazu sind überaus vielfältig: Schon der römische Gelehrte Marcus Terentius Varro zählte im 1. Jahrhundert vor Christus nicht weniger als 288 Glücksdefinitionen. Seither sind es kaum weniger geworden; neuerdings beschäftigen sich neben der Philosophie auch angrenzende Diszip­linen mit der Thematik, vornehmlich Soziologie und Psychologie.
Die Musik gilt seit geraumer Zeit als ein Ort des Glückserlebens: Ob bei Platon, für den Musik und Rhythmen diejenigen Dinge sind, die am tiefsten in die menschliche Seele eindringen und sie zu berühren vermögen,1 oder Schopenhauer, dem Musik ein „Kathartikon des Geis­tes“2 ist und „innige Freude […], mit der wir das tiefste Innere unseres Wesens zur Sprache gebracht sehn“.3 Mit ihnen seien nur zwei prominente Vertreter genannt, die in der Musik eine Quelle des Glücks sehen.
Sucht man als moderner Mensch des 21. Jahrhunderts nach den diesem Phänomen zugrundeliegenden Kausalmechanismen – um es zu verstehen und es nach Möglichkeit auch gleich selbst „herstellen“ zu können –, so sieht es mau aus: Schopenhauer bezieht sich, ganz romantisch, auf die Beobachtung seiner Empfindungen, und auch an anderer Stelle ist eher Glauben denn Verstehen gefragt. Mit der Produktion von Glück ist es jedoch ohnehin so eine Sache: Dringt man tiefer ein ins Dickicht des Theorien-Dschungels, so stellt man ernüchtert fest, dass nicht wenige Autoren, unter ihnen Kierkegaard, von solch manufakturistischen Gedanken eher abraten: Wer nach Glück strebt, so meinen sie, habe es schon verloren.4

Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation

Angesichts der Schwierigkeit, das Phänomen Glück fassbar, greifbar, gar herstellbar machen zu können, wollen wir uns daher für den Moment damit begnügen, nach einer zweitbesten Möglichkeit Ausschau zu halten. Eine solche Option hat nicht den Anspruch, zum metaphysischen Kern der Sache vorzudringen. Im direkten Vergleich mit dem Pathos der Beschreibungen unserer philosophischen Vorfahren mag ihr daher der ein oder andere eine gewisse Fadheit bescheinigen. Was sie jedoch leisten kann, ist Klarheit – Klarheit über Zusammenhänge und Strukturen sowohl des Zustandekommens als auch der potenziellen Herstellung eines glücksähnlichen Zustands.
Die Selbstbestimmungstheorie der Motiva­tion von Edward L. Deci und Richard M. Ryan scheint sich als eine solche zweitbeste Möglichkeit gut zu eignen. Grundlage dieser Theorie ist zum einen, dass der Mensch ein inneres Streben nach Wachstum hat, zum anderen die Annahme, dass der Mensch drei angeborene, universelle psychologische Grundbedürfnisse hat: die Bedürfnisse nach Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit. Ebenfalls angeboren ist dem Menschen das Bestreben, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Gelingt dies, so stellt sich neben verbesserter psychischer Verfassung ein seelisches Wohlbefinden ein, das mit einem Wachstum des Selbst, der Persönlichkeit einhergeht.5
Mit Autonomie ist gemeint, dass ein Individuum sich als Ursprung seines Handelns begreift. Es erfährt sein Verhalten als Ausdruck seines Selbst, in dem sich eigene Interessen und Werte verwirklichen. Autonomie ist nicht mit Unabhängigkeit zu verwechseln; so kann es durchaus geschehen, autonom eine Handlungsoption zu wählen, die eine andere Person einfordert – vorausgesetzt, sie stimmt mit den persönlichen Werten überein. Mit Kompetenz ist ein Gefühl von Wirksamkeit in Interaktionen mit der sozialen Umwelt angesprochen, das durch Erproben der eigenen Leistungsfähigkeit entsteht. Das Bedürfnis nach Kompetenz lässt den Menschen ständig nach Herausforderungen suchen, die seinen Fähigkeiten optimal entsprechen. Gleichzeitig werden dabei diese Fähigkeiten ständig verbessert. Das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit spricht ein Gefühl nach Zugehörigkeit sowohl zu einzelnen Individuen als auch zu einer Gemeinschaft als Ganzem an. Dabei ist dieses Bedürfnis Selbstzweck und dient keinem anderen Ziel.

1 Platon: Der Staat, Stuttgart 1982, 398c-400c.
2 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Frankfurt am Main 1996, S. 520.
3 ebd., Band I, S. 337.
4 „Die Tür zum Glück geht nach außen auf – wer sie ,einzurennen‘ versucht, der verschließt sie nur.“ Søren Kierkegaard, zit. in Viktor Frankl: Der Mensch auf der Suche nach Sinn, Stuttgart 1972, S. 175.
5 Edward L. Deci/Richard M. Ryan: „Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Motivation, Social Development and Well-Being“, in: American Psychologist 1/2000, S. 73.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2011.