Steffen-Wittek, Marianne

Begabt, hochbegabt, Superstar

Der ­Erziehungswissenschaftler Freerk Huisken kritisiert die Intelligenz- und ­Begabungsforschung

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 1/2011 , Seite 44

Freerk Huisken wurde 1941 in Eberswalde geboren. Er studierte zunächst in Oldenburg und arbeitete bis 1967 u. a. auch als Musiklehrer an einer Schule. In Erlangen-Nürnberg nahm er anschließend ein zweites Studium auf (Pädagogik, Politik, Psychologie), promovierte und erhielt 1971 eine Professur für Politische Ökonomie des Ausbildungssektors an der Universität Bremen. 2006 trat Freerk Huisken in den Ruhestand. Er ist weiterhin als Hochschullehrer tätig und hält bundesweit Vorträge zu bildungs- und gesellschaftspolitischen Themen. Als Autor zahlreicher Publikationen widmet er sich der wissenschaftlichen Analyse und Kritik des Bildungswesens, der Pädagogik und der Jugendgewalt (Auswahl: Erziehung im Kapitalismus – Von den Grundlügen der Pädagogik und dem unbestreitbaren Nutzen der bürgerlichen Lehranstalten, Über die Unregierbarkeit des Schulvolks, Der „PISA-Schock“ und seine Bewältigung).

Herr Huisken, Sie gehören zu den Kritikern der Intelligenz- und Begabungstheorien. Wenn sich Menschen in speziellen Bereichen mit besonderen Leistungen hervortun, spricht fast alle Welt bedenkenlos von Begabung, Talent oder Genie. Was stört Sie an dieser Wortwahl?

Mich stört nicht die Wortwahl, sondern ein Gedanke, der mit dem Begriff Begabung nur allzu häufig gerade auch in der Wissenschaft transportiert wird. Ich meine den Gedanken, dass besondere, z. B. musikalische oder mathematische Leistungen durch Anlagen bestimmt, determiniert sind. Da herrscht die Vorstellung, in einer besonderen Leistung oder Fertigkeit äußere sich nur, was im Inneren des Menschen bereits angelegt ist. Es krankt dieser Theorie zum einen daran, dass die behauptete Anlage als solche, das heißt als genetische Disposition oder als Genom nie für sich festgestellt, sondern immer nur als Schluss aus der geäußerten Kunstfertigkeit festgehalten wird. Das ist wissenschaftlich nicht haltbar, da in diesem zirkulären Beweisverfahren das zu erklärende Phänomen, die besondere Leistung, zugleich als Beweis für die Erklärung, also für die Begabungstheorie herhalten muss.
Zum anderen unterschlägt dieser Gedankengang, dass jede noch so herausragende wie auch jede „mittelmäßige“ Leistung auf das geistige Interesse und die Intensität sowie die Zielstrebigkeit, mit der etwas verfolgt wird, zurückzuführen ist. In der Musik wie in der Mathematik oder in anderen Bereichen gibt es keine geistige und keine technische Operation, zu deren Ausführung der Mensch sich nicht bewusst entschieden hätte. Das heißt das, was jemand kann und weiß, ist nicht durch Anlagen bestimmt, sondern das liegt allein an dem, was ein Mensch mit seinem bestimmten Interesse und einem entsprechenden Grad an Anstrengung, also in einem Akt freier geistiger Betätigung aus seinen Potenzen, seinen „kleinen grauen Zellen“ macht.
Der durchgehende Mangel dieser Sorte von Begabungstheorien besteht nun einmal darin, dass immer erst dann auf eine innere Potenz oder Disposition geschlossen wird, nachdem der Mensch es nach jahrelangem, interessegeleitetem Lernen und Üben zum Konzertpianisten gebracht hat. Nichts davon hat ihm sein natürliches Gehirn vorgeschrieben. Oder anders gesagt: Welcher Begabungstheoretiker könnte von einem jungen Menschen, der sich für Musik nicht interessiert und keine Lust zu Mathe hat, sagen, er sei in diesen Disziplinen nicht begabt? Würde er die Schüler, denen die Schule mit der Unterwerfung des Lernens unter die Notengebung das Interesse an diesem oder jenem Fach ausgetrieben hat und die dann ihre regelmäßigen Fünfen ebenso brav wie wenig sachgemäß mit dem Hinweis auf ihre fehlende Begabung kommentieren, wirklich als Kronzeugen anführen?

Musikhochschulen brüsten sich damit, zu den Elite-Hochschulen Deutschlands zu gehören. Musikstudenten gelten als „Begabte“ bzw. „Hochbegabte“, da sie in so genannten Eignungsprüfungen ein spezielles Auswahlverfahren erfolgreich durchlaufen haben. In einem „Spiegel Online“-Interview von 2004 sprachen Sie zum Thema „Elite-Universitäten“ vom „Hochbegabtengefasel“. Was kritisieren Sie am Begriff Hochbegabung?

Schon der Begabungsbegriff sortiert mehr, als dass er erklärt; genauer: Er legitimiert gerade die in der Schule per Leistungskonkurrenz vollzogene Sortierung, behauptet folglich, es sei Sache der Natur des Kindes, was das Werk der Schule am Kind ist. Und schon gibt es Begabte und Unbegabte. Der Begriff der Hochbegabung radikalisiert diese Sortierung sehr elitär, indem er die Hohen von den Niederen in Sachen Begabung trennen möchte. Bei der Rede von der Begabung stellt sich immer noch die Frage, worin bzw. wofür der Mensch begabt sei; weswegen Lehrer die in den „Kernfächern“ unbegabten Schüler mit dem Hinweis auf ihre „praktische Begabung“ zu trösten versuchen – ein gemeiner Trost, der diesen Schülern nur allzu häufig allein die Hartz-IV-Karriere eröffnet.
Anders beim Begriff der Hochbegabung. Da fällt jede Erinnerung an inhaltliche Schwerpunkte einfach weg. Er sortiert pur zwischen geistiger Elite und dem Rest, der sich dann in den Begabungsniederungen ohne Anspruch auf jene Behandlung, Hilfe oder gar Ehrung tummeln kann, die denen auf der Höhe zuteil wird. Eine gewisse Paradoxie wäre noch anzumerken, die aber der falschen Theorie entspricht: Unter dem Titel „Hochbegabtenförderung“ wird gerade denjenigen eine besondere Förderung zuteil, die sich ohnehin schon gegenüber den Tiefbegabten hervortun. Nötig hätten es allemal Letztere.
Dass die „Hochbegabten“ dann nicht selten als personifizierte Selbstgefälligkeit herumlaufen und es sich– übrigens ganz im Gegensatz zur Begabungstheorie – nicht nur selbst, sondern hoch anrechnen, was aus ihnen im Unterschied zum minder veranlagten Rest der Bevölkerung geworden ist, fällt ganz in die Psychologie der Konkurrenz. Hierzulande bringt es nämlich der Umstand, dass jede Anstrengung gleich als Konkurrenz, das heißt als das Ausstechen anderer organisiert ist, mit sich, dass hervorragende Leistungen in diesem oder jenem Gebiet nicht einfach benutzt, genossen, zu eigener oder anderer Menschen Freude und zum Wohl der Menschheit eingesetzt werden, sondern sogleich in eine Sortierung nach dem – eingebildeten – Wert der Person überführt werden.

In der heutigen Begabungsforschung wird die Wechselwirkung von genetischem Potenzial und anregenden Umweltbedingungen untersucht. In Ihrer Publikation „Erziehung im Kapitalismus“ kritisieren Sie nicht nur die frühere Scheinkontroverse Genetik/Umwelt, sondern erklären „Begabung“ als eine Erfindung der Pädagogischen Psychologie. Ich zitiere: „Die pädagogische Übung, jedes besondere Wissen und Können als Ausdruck einer besonderen Begabtheit zu interpretieren, ist nämlich für die Umkehrung dieses Satzes erfunden: Wenn Begabung das dem Individuum Mögliche festlegt, dann legt sie auch das ihm Unmögliche fest.“ Lässt sich diese Feststellung in der pädagogischen Praxis nachweisen?

Sie zielt gerade auf die eben angesprochene Rechtfertigung: Wenn Kinder, die langsamer lernen, die weniger häusliche Hilfe erfahren oder aus „bildungsfernen Schichten“ stammen, im Zuge der gnadenlosen Gleichbehandlung in der Schule nicht mehr mitkommen, dann weiß der begabungstheoretisch geschulte und deswegen um Ausreden nicht verlegene Pädagoge, der natürlich – unter den gegebenen Schulbedingungen, versteht sich – immer sein Bestes gibt, dass es vielen Kindern nicht am Lernwillen, sondern an der Fähigkeit dazu fehlt. Er weiß dann sofort, dass viele dieser Kinder von ihrer Anlage her gar nicht können können. Entsprechend fällt dann auch der ganz ums Kindeswohl besorgte Rat an die Eltern aus: Diesem Kind würde man mit einer Gymnasialempfehlung nichts Gutes tun, heißt es. Dort würde es ihm unmöglich sein, seinen Weg zu machen. Bei der minderen Begabung! Eine hübsche Verdrehung, die sich so ein Lehrer da leistet: Wo das Gymnasium diese Kinder die Segnungen der Durchlässigkeit des Schulwesens – von oben nach unten – spüren lässt, da wird umgekehrt behauptet, die Kinder würden nicht zum Gymnasium passen. Als ob es bei der Verteilung der Schüler auf die Schularten auf das jeweils zu ihnen Passende und nicht darauf ankäme, im schulischen Selektionsvorgang die Verteilung des Nachwuchses auf die Hierarchie der kapitalistischen Berufswelt in etwa vorwegzunehmen.
Aber noch einmal zurück zu der Anlage-plus-Umwelt-Theorie, die Sie genannt haben: Sofern der ergänzte Umweltgedanke ebenfalls deterministisch angelegt ist, trifft auch auf ihn die zuvor genannte Kritik zu. Und etwas anderes kann mit der Kategorie „Umwelt“ auch gar nicht gemeint sein. Der Mensch, heißt es, „unterliege“ allen möglichen „Einflüssen“. Dabei gibt er bloß dem Computerspielen den Vorzug vorm Lateinlernen, sieht lieber „DSDS“ als die „Lindenstraße“, zieht das Fußballtraining dem Kirchgang vor oder lässt sich eher vom Großvater als vom Vater etwas sagen; aus welchen guten oder schlechten Gründen auch immer. Aber Gründe hat er dafür allemal selbst.

Sie sprachen anfangs vom zirkulären Beweisverfahren in der Begabungstheorie. Inzwischen kritisieren sogar Entwicklungspsychologen solche Theorien, in denen musikalische „(Hoch-)Begabung“ durch nichts anderes als durch die musikalische Leistung selbst festgestellt wird und somit eine zirkuläre Definition ist. Warum halten Wissenschaftler, Pädagogen, Künstler und Publikum dennoch so hartnäckig an dem Begabungsbegriff fest?

Dass ausgerechnet Entwicklungspsychologen die Begabungs- bzw. Hochbegabungstheorien aus dem Verkehr gezogen hätten, kommt für mich überraschend – an wen denken Sie da? Überraschend deswegen, weil doch gerade die Entwicklungspsychologie davon ausgeht, dass bestimmte Lernvorgänge an bestimmte Entwicklungsphasen geknüpft seien, dass deswegen z. B. die Entwicklung des Kindes Schaden nehmen könne, wenn man es zu früh mit „abstrakten Gedanken“, Gedankengebäuden gar konfrontiert; dass es dann leicht verkopfe, was seiner Entwicklung nicht gut tue usw. Dass sich der Begabungsbegriff so hartnäckig hält, liegt eben nicht an seinem theoretischen Gehalt für sich, sondern an dessen Funktionalität: So hält man systematische Kritik von Schule fern, wenn man ihr Resultat – nämlich die Sortierung des gesamten Nachwuchses nach einer Minderheit, die später als gesellschaftliche Elite der Nation damit dienen darf, dass sie die Masse der Haupt- und Realschulabgänger bei der Arbeit und der Stange hält – auf ein im Nachwuchs der Gesellschaft nun einmal vorhandenes Begabungsprofil zurückführt. Dann leistet – dieser Auffassung zufolge – die Schule ihren Dienst allein an der im Nachwuchs vorhandenen Begabungsverteilung, bringt nur hervor, was dort angelegt ist. Übrigens irritiert es Bildungspolitiker, die jeweils festlegen, ob aus Gründen des gesellschaftlichen Bedarfs mehr oder weniger Schüler das Abitur machen und studieren sollen, überhaupt nicht, ihre politischen Beschlüsse später begabungstheoretisch zu legitimieren.

Um Ihre vorherige Frage zu beantworten: Ich denke da an einen gemeinsamen Artikel des Entwicklungspsychologen Rolf Oerter und des Musikpsychologen Andreas C. Lehmann zum Thema „Musikalische Begabung“. Beide Autoren kritisieren die Hochbegabungstheorie von Francoys Gangé in dem von Ihnen genannten Punkt der zirkulären Beweisführung. Dennoch – und da liegen Sie mit Ihrer Einschätzung ganz richtig – rücken beide nicht davon ab, andere Begabungstheorien mit brauchbareren Kriterien für den wissenschaftlichen Nachweis von Begabung ausfindig machen zu wollen.
Howard Gardner definierte 1991 in seinem – damals von vielen (Musik-)Pädagogen beachteten – Buch „Abschied vom IQ“ Intelligenz als die „Fähigkeit, Probleme zu lösen oder Produkte zu schaffen, die im Rahmen einer oder mehrerer Kulturen gefragt sind“. Basierend auf biologischen und ethnologischen Indizien möchte er den Beweis antreten, dass der Mensch über mindestens sieben Intelligenzen verfügt. Er geht davon aus, dass man bereits von einem ein- bis zweijährigen Kind ein intellektuelles Profil erstellen kann, das ihm helfen soll „in den Bereichen fortzuschreiten, für die es begabt ist“. Diese Publikation enthält zahlreiche Widersprüche und rassistische Urteile. Die Theorie der „vielfachen Intelligenz“ ließe sich leicht als populär-(un)wissenschaftliche Abhandlung abtun. Sie, Herr Huisken, machen sich die Mühe, wesentliche Aussagen der klassischen Entwicklungspsychologie zu untersuchen und zu kritisieren. Welches Fazit ziehen Sie?

Was in diesen psychologisch ausgerichteten Disziplinen gelernt wird, ist insofern praktisches Rüstzeug für den Lehrer, als es ihm hilft, sich in der hiesigen Staatsschule mit ihren Zielen und Resultaten so einzurichten, dass er sie und sein eigenes Tun irgendwie noch akzeptieren kann. Jeder Lehrer weiß, dass er – je nach Fach und Schulstufe etwas unterschiedlich – Schicksal spielt, dass er über kleine Menschen lebensrelevante Entscheidungen fällt. Die pädagogischen Disziplinen sorgen nun insofern für das geistige Handwerkszeug des Lehrers, als sie ihn mit all dem ausstatten, was er für sein pädagogisches Gewissen braucht: Sie sorgen für jene Ideologien, die dazu taugen, dass er seine Selektionsarbeit mit gutem Gewissen vollziehen kann. Sein Tun ist dann kindgemäß, wird den Anlagen gerecht, ist überhaupt sehr gerecht und entdeckt wirklich nur an den Kindern „Naturanomalien“ – ADHS –, die ihm mit ihren „Aufmerksamkeitsdefiziten“ in der Schule das Leben schwer machen. Übrigens wäre auch ein schlechtes Gewissen nicht besser. Es ist nicht einmal ansatzweise mit jener Kritik zu verwechseln, welche die Schule verdient. Denn es handelt sich beim schlechten Gewissen insofern um eine äußerst billige und auch nur platonische Form von Selbstkritik, als es dazu taugt, dass der Lehrer im Bewusstsein dessen, was „eigentlich“ kindgemäß wäre, doch immer wieder seinen Frieden mit der real existierenden Schule macht.

Musikschulen sind hauptsächlich im Bereich des Freizeitmarkts angesiedelt und konkurrieren mit anderen (kulturellen) Freizeitangeboten um Subventionen und „Kunden“. Hier erhalten Kinder, Jugendliche und Erwachsene ohne jedes Auswahlverfahren Musikunterricht, solange sie dafür bezahlen können. Aber auch Musikschulen wollen nicht auf die Entdeckung und Förderung musikalischer Hochbegabungen verzichten.

In Musikschulen setzt sich fort, was in der Schule begonnen wird und dort nach Auffassung vieler Oberschichteltern und aller Musiklehrer immer zu kurz kommt: die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten aus Bereichen, die ihre Funktion darin besitzen, dass sie absolut funktionslos sind; zumindest für die Ausstattung des Menschen mit „Kompetenzen“, mit denen er sein Leben der Marktwirtschaft unterwirft. Das macht das Fach Musik – wie auch das Fach Kunst – zum Nebenfach, zur curricularen Manövriermasse für die Bildungspolitik. Kunst im weiteren Sinn fällt nämlich in die Abteilung Sinnstiftung. Da lernt man, dass in dieser Gesellschaft nicht nur das „Geld“, der „Profit“ und der Börsenkurs regieren, sondern dass in ihr auch „das Schöne“ und der Genuss daran seinen Platz hat. Das soll mit all dem Hässlichen immer ein bisschen versöhnen. So etwas brauchen dann wirklich nur die höheren Stände. Der Rest genießt Gottschalk oder Pilawa; und dafür braucht es keine vorgängige Unterweisung in einem Schulfach.
Dass viele Eltern ihre Kinder deswegen in Musikschulen schicken, weil sie ihr Kind für hochbegabt halten und aus ihm einen Star machen wollen, ist angesichts des überall grassierenden Starkults nicht ungewöhnlich. Das zeigt, dass man es als echter Liebhaber des „Wahren, Guten und Schönen“ mit Sinnstiftung durch zwecklosen Kunstgenuss hierzulande gar nicht leicht hat. Da regieren doch glatt Konkurrenz und Kommerz auch das Musikleben! Ja, wer hätte das vom Kapitalismus gedacht!

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