Wüstehube, Bianka

Räume öffnen – warten können

Was lernt man eigentlich beim Elementaren Musizieren?

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2010 , Seite 18

Unter dem Eindruck der Erfahrungen in den „Musikalischen Reisen“ des Wiener EMP-Symposions, die in diesem Heft im Praxis-Teil gespiegelt werden, diskutierten unter der Leitung von Bianka Wüstehube (Bruckner-Universität Linz) und unter Mitwirkung von Christian Winkler (Direktor des Wiener Musik­gymnasiums) vier ExpertInnen des Faches: zwei „ReiseleiterInnen“, Hans Bucher und Veronika Kinsky (beide Musikuniversität Wien) sowie zwei „ReiseteilnehmerInnen“, Martina Kroboth-Kolasch (Fachgruppen­leiterin EMP in Oberösterreich) und Michaela Widmer (Universität Mozarteum Salzburg). Der folgende Beitrag gibt wesentliche Passagen dieser Diskussion wieder. Die Fragen stellte Bianka Wüstehube.

Zum Thema „Lernen in der Elementaren Musikpädagogik“ fällt mir die folgende Situation ein: Ich war Beisitzerin in einem Hearing für eine EMP-Stelle in einem Kindergarten. Eine Kollegin, die von sehr schönen Projekten berichtete, wurde gefragt, was denn die Kinder in ihrem Unterricht lernen würden. Daraufhin erklärte sie, dass bei einem prozessorientierten Arbeiten kein Lernerfolg zu erwarten wäre. Stattdessen zählte sie Punkt für Punkt auf, was die Kinder alles nicht lernen… Auf die Frage nach Lernergebnissen geraten EMP-Lehrende oft in eine Verteidigungsposition. Wir orten hinter der Frage vermutlich eine behaviouristische Auffassung vom Lehren und Lernen. Die EMP braucht aber wohl eine andere. Welches Lernmodell ist für die in den „Musikalischen Reisen“ erlebte Arbeit sinnvoll?
Christian Winkler: Wir haben eigentlich die Aufgabe, die Reiseerlebnisse auf eine neue Bedeutungsebene zu heben. Alle haben eine musikalische Reise erlebt und jeweils danach in einer Feedbackrunde versucht zu formulieren und zu benennen, was sie getan haben. Der erste Schritt war also herauszubekommen, was in uns neu entstanden ist. Und der nächste Schritt wäre, diesen Dingen, die jeder individuell erlebt hat, eine subjektive Bedeutung zu geben. Jeder sollte sich fragen, was das mit ihm zu tun hat. Letztendlich geht es darum, das Erlebte in einen Erfahrungsschatz umzuwandeln, um es so für sich sicherzustellen, damit wir in Zukunft etwas mehr haben. Ernst von Glasersfeld, der den radikalen Konst­ruktivismus mitentwickelt hat, formuliert es so: „Etwas gelernt zu haben, bedeutet im Grunde, Schlussfolgerungen aus der Erfahrung gezogen zu haben.“ Das ist meiner Meinung nach der entscheidende Punkt. Wenn es gelungen ist, Erlebtes ins Bewusstsein zu bringen und dies auf eine Ebene zu stellen, die uns einen Zuwachs an Erfahrung und damit für die Zukunft neues Werkzeug zur Verfügung stellt: Das wäre für mich Lernen.

Mit dieser Definition von Lernen wende ich mich an die Reiseleiter und Reiseleiterinnen. Es gibt Reiseleiter, die mit großen Touristengruppen – mit hoch erhobenem Regenschirm vorneweg – von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit eilen oder solche, etwa Bergführer, die eine kleine Gruppe durch gefährliche Gebirgslandschaften führen. Welche Art Reiseleiter ward ihr?
Veronika Kinsky: Ich glaube, wir haben sehr, sehr viele Rollen als Reiseleiterinnen. Das beginnt in der Vorbereitung, da bin ich eigentlich eine Stundenkomponistin. Das ist ein sehr schwieriger Prozess, in den ich da als Vorbereitende hineingehe: Erstens muss ich ein Thema finden, das mich selber berührt. Das ist ganz wichtig, damit der Funke überspringen kann. Dann webe ich ein feines Konzept aus Impulsen, die ich der Gruppe anbiete, um Räume für tief greifende musikalische Prozesse zu öffnen. Wenn ich mit meinem Konzept, mit meiner Komposition, in die Stunde komme, nehme ich viele verschiedene Rollen ein: Mal bin ich mehr führend und setze viele Impulse, mal lasse ich Freiräume zu und ziehe mich zurück. Oder ich unterstütze musikalisch, begleite mit einem Groove, wenn es sinnvoll ist mit den Teilnehmenden mitzuspielen. Ich wechsle unaufhörlich die Rolle, mit einer ganz feinen Wahrnehmung, weil ich ständig im Dialog bin und spüren muss, wann mich die Gruppe mehr und wann sie mich weniger braucht.
Johann Bucher: Auch für mich ist die Betroffenheit durch das Thema ganz wesentlich. Wenn ich mich nicht mit diesem identifizieren kann, dann funktioniert kein Prozess. Um im Bild des Reiseleiters zu bleiben: Ich möchte meine Reisegruppe dafür begeistern, die Stadt selbst zu entdecken, detektivisch ihre Geheimnisse zu erforschen, die wundersamen und schönen Gebäude ausfindig zu machen und dabei den eigenen „Instinkten“ nachzuspüren. Das Wort „lernen“ geht etymologisch auf den indogermanischen bzw. gotischen Wortstamm „lais“ oder „leis“ zurück. In unserem Wort „Geleise“, also Spur, ist das noch deutlich vorhanden. Lernen heißt also in diesem alten Sinn „einer Spur nachgehen“ bzw. „nachspüren“, und da ist auch die Assoziation zum detektivischen Tun, zum „Schnüffeln“ nicht weit. Ich will also zum Schnüffeln (und nicht zum „Büffeln“!) anregen.

Habt ihr geschnüffelt oder was konnten die Reisenden lernen?
Manuela Widmer: Ja, durchaus. Ich habe sogar ganz konkret geschnüffelt. Es gibt ein Foto, auf dem ich an einem Saiteninstrument schnüffle. Und ich kann bestätigen, dass ich mich an diesem gestrigen Tag vielen kleinen Elementen angenähert habe. Ich bin hingegangen, mit meinen Ohren, mit meinen Augen, vielleicht auch mit meinem Geruchssinn…
Martina Kroboth-Kolasch: Ich sehe mich mit meiner Reise noch gar nicht am Ende. Ich habe viele Erfahrungen bei den Reisen gesammelt. Es war spannend, drei Tage lang einmal nicht die Reiseleiterin, sondern die Reisende zu sein. Ich nehme in meinem Koffer die Erlebnisse mit und freue mich auf mein „Fotoalbum“ und das Auspa­cken. Denn dann geht der gestern begonnene Prozess ja weiter. Die gestrigen Erfahrungen wirken erst nach, vieles möchte ich ausprobieren. Und das ist vermutlich charakteristisch für Lernerfahrungen in der EMP. Im Unterricht wird etwas angestoßen, was dann nachwirkt und fortgesetzt wird. Ich reise und lerne weiter.
Veronika Kinsky: Ich habe als Reiseleiterin etwas gelernt: Wenn ich einer Gruppe viel Freiheit gebe, muss ich ihr zugleich Sicherheit geben für diese Freiheit; und wenn ich einen engen Rahmen stecke, muss ich den so stecken, dass in diesem Rahmen Freiheit möglich ist.
Christian Winkler: Ich habe als Reisender gelernt: Es war für mich ganz faszinierend, dass es bei meiner Reise eine Phase, eine Art „Wartezeit“ gab, in der lange nichts geschehen ist in der Gruppe. Es wurde so ein bisschen mulmig: Reißt das jetzt ab, scheitern wir? Die Reiseleiterin hat nichts gemacht bzw. mit größter Ruhe gewartet, und sie hat zu Recht gewartet, weil dieses Vakuum, das da entstanden ist, schließlich dazu führte, dass die Gruppe aktiv geworden ist und etwas aus dieser Situa­tion entstanden ist. Das Schwierigste beim Leiten ist offenbar, sich zurückzuhalten und nicht zu führen. Wobei das „Nichtstun“ ja auch etwas Aktives ist und gar keine einfache Situation: ständig abzuschätzen, was die Gruppe braucht, damit sie auf ihrer Reise gut vorankommt. Oder zu entscheiden, etwas der Gruppe ganz bewusst vorzuenthalten, damit sie gut vorankommt. Es ist wohl tatsächlich so, dass man ein soziales System – und als solches betrachte ich aus meinem Verständnis heraus eine arbeitende Gruppe – mit etwas anschubsen und dann schauen kann, wie es darauf reagiert. Die Rahmenbedingungen sind in einer Form zu gestalten, dass in einer Gruppe etwas in Gang kommt und sich bewegt.

Jetzt frage ich aber als kritische Instrumentalpädagogin nach: Du hast von Wartezeit, von Vakuum gesprochen. Kann man diese Zeit nicht sinnvoller nutzen? Wir haben, im Musikschulkontext gedacht, wenig Zeit mit den Schülern und Schülerinnen. Sollte man dann die wenige Zeit nicht lieber für Fingerübungen, Notenlehre etc. nutzen, als mit Warten zu verbringen?
Manuela Widmer: Während des Wartens lernt man auch. Der Neurologe Manfred Spitzer geht davon aus, dass man sowieso immer lernt bzw. dass Menschen überhaupt nichts besser können als zu lernen. Das Gehirn tut es permanent, wahrscheinlich sogar im Schlaf. Wir können überhaupt nicht verhindern, dass wir lernen. Und vielleicht ist es diese Basiserkenntnis der Neurologen, die man auch Musikschulleitenden oder Kollegen und Kolleginnen immer mal wieder vor Augen halten muss. Ich denke, dass es einen gezielt gegebenen Raum braucht, um überhaupt erst mal ein Bedürfnis entstehen zu lassen. In diesem so definierten „Warteraum“ wird vermutlich eine viel nachhaltigere Erfahrung ermöglicht mit den Menschen, die selbst das Thema sind, als wenn ich vordergründig sage: „Jetzt üben wir diese ganz bestimmten rhythmische Patterns.“ Das ist im Moment vielleicht den Bedürfnissen der einzelnen Mitglieder überhaupt nicht angemessen und wird deshalb vermutlich auch relativ schnell wieder vergessen. Das heißt, dass das wirkliche nachhaltige Lernen, das, was uns beschäftigt, was uns prägt, was vielleicht zu einer Verhaltensänderung führt, im Grunde genommen nur in jedem von uns selbst geschehen kann. Jeder muss sich entscheiden, jeder muss selber lernen. Ich kann Lernen nicht machen. Ich kann nur Räume dafür schaffen als Pädagogin und Pädagoge, ich kann Material anbieten, Impulse setzen, ich kann begleiten und auffordern, ich kann Modell sein und Anreize schaffen, ich kann selber leidenschaftlich begeistert sein davon und in dem Moment kann ich manche Menschen direkt erreichen und manche erreiche ich erst später. Dieses Warten können brauchen Pädagoginnen und Pädagogen als allererste Tugend. Zweiflern, die zu schnell die Ergebnisse wollen, kann man immer wieder mal vor Augen halten: „Warte mal, in fünf Jahren sprechen wir uns wieder.“

Wie sieht es bei dieser Art prozessorientierten Arbeitens mit dem Thema „Wiederholung und Übung“ aus?
Veronika Kinsky: Beim elementaren Musizieren gibt es eine andere Art des Übens. Es ist nicht ein Üben nach dem Motto: „Ich will das jetzt können und deshalb spiele ich es tausendmal.“ Es ist ein Üben, das durch das pure Tun in der Gruppe entsteht. Wenn ich mich in einer elementaren Musiziergruppe einmal in der Woche mit anderen treffe und musiziere, wächst auch mein musikalisches Handwerk, weil ich es einfach immer wieder gemeinsam mit den anderen tue. Weil der eine ein besonders gutes Rhythmusgefühl hat oder der andere ausdrucksvoll singt, werde ich angesteckt und so wächst auch mein Gefühl für das Metrum oder meine Lust zu singen. Und wenn ich dann so motiviert und angesteckt bin, dann nehme ich halt zusätzlich einen Stimmbildungsunterricht oder qualifiziere mich an einem Instrument.
Manuela Widmer: Wir müssen uns auch im elementaren Musizier- und Bewegungsbereich nicht unbedingt alles anziehen. Wir sind nicht zuständig für eine komplette musikalische und besonders nicht für eine instrumentale Ausbildung. In unserem Gruppenunterricht ist das individuelle Weiterentwickeln von Fähigkeiten oder Techniken gar nicht das Ziel. Es geht aber darum, die Mitglieder einer Gruppe zu beraten, wenn sie sich weiterbilden wollen. Da müssen wir jedem Individuum helfen, seinen eigenen Weg zu finden.

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