Röbke, Peter / Natalia Ardila-Mantilla (Hg.)

Vom wilden Lernen

Musizieren lernen – auch außerhalb von Schule und Unterricht

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: üben & musizieren 2/2010 , Seite 54

Oft staunt man über Jugendliche, die sich das Gitarrenspiel selbst aneignen, über Kinder, die in einer ländlichen Blaskapelle mitspielen, ohne geregelten Unterricht zu haben. Sie alle lernen informell, durch Abhören von CDs, durch das Beispiel der Mitglieder ihrer Kapelle. Lernen und Üben geschehen nicht planvoll, sondern nur im Hinblick auf das Ziel der musizierenden Gemeinschaft. Ob und wie dieses „wilde Lernen“ auch im Kontext von Schule und Universität zu finden ist, davon handelt dieses interessante Buch. Es enthält Beiträge eines Symposiums, das im März 2009 an der Wiener Musikuniversität stattfand.
In seinem einleitenden Beitrag beschreibt Peter Röbke die Entfremdung des Instrumentalisten von der Musik. Dieser muss zunächst einen systematischen Lehrgang, z. B. mit Übungen von Czerny oder Sˇevˇcík, absolvieren, um irgendwann den Anforderungen der Kompositionen für sein Instrument gewachsen zu sein. Viele SchülerInnen hören vorher mit dem Unterricht wieder auf; denn dieses „Lernen auf Vorrat“ hat nichts mit ihrer eigentlichen Motivation zu tun, ein Instrument zu erlernen. Anhand eindrucksvoller Beispiele beschreibt Röbke die Faszination des autodidaktischen Musiklernens und gibt seiner Sehnsucht nach einer Instrumentalpädagogik Ausdruck, die ihre Schüler nicht von ihrem außerschulischen Lernen und ihren biografischen Wurzeln entfremdet.
Auch wenn in den verschiedenen Aufsätzen deutlich wird, dass sich die musikalischen Lernwelten nicht klar in formale und informelle trennen lassen, ist der Beitrag von Peter Mak sehr hilfreich für die weitere Diskussion. Er definiert formales, nicht-formales und informelles Lehren und Lernen und zeigt deren Vor- und Nachteile auf. Sehr persönlich beschreibt Ulrich Mahlert das Verhältnis von informellem Lernen und „klassischem“ Instrumental-/Vokalunterricht. Anhand seiner eigenen Erfahrungen stellt er die Hypothesen auf, dass Schüler eher eine musikalische Autonomie entwickeln, wenn sie unreglementiert und selbst gesteuert lernen können, und dass es besonders den hochkompetenten Lehrkräften schwerfällt dieses zuzulassen.
Jan Hemming, Adina Mornell und Christian Winkler beschreiben, wie wildes Lernen funktioniert. Am Beispiel der Beatles erläutert Hemming detailliert und wissenschaftlich untermauert die Beziehungen zwischen autodidaktischem Lernen, Motivation und Innovation. Hochinteressant ist der systemisch-konstruktive Blick auf das Lehren und Lernen, den Winkler erläutert. Hier wird deutlich, warum das traditionelle Instruieren durch einen Lehrer allein nicht erfolgreich sein kann. Winkler plädiert für eine „Ermöglichungsdidaktik“, die den Rahmen für das Lernen vorgibt, aber Raum lässt für Unberechenbarkeit, Eigensinnigkeit und Selbstbestimmung des Schülers.
Drei Fallbeispiele von Regine Himmelbauer, Natalia Ardila-Mantilla und Reinhard Gagel lenken den Blick auf die Blockflötenpädagogik, die Beweggründe „eigensinniger“ Musiker und auf das „Improvisiakum“ als Modell für eine informelle Musizierpraxis. In ihren Ausblicken gehen die beiden HerausgeberInnen des Buchs noch einmal auf das Lernen in der musikalischen Praxisgemeinschaft und auf die Durchlässigkeit von Lernwelten ein.
Ein bemerkenswertes Buch, das zur musikpädagogisch-wissenschaftlichen Theoriebildung beiträgt und für die Praxis an Musikschulen wie an allgemein bildenden Schulen gleichermaßen interessant sein dürfte.
Beate Forsbach