Berg, Ivo

Die Spannung ist mit Händen zu greifen

Wie der Umgang mit Materialien die Lust am musikalischen ­Ausdruck fördern kann

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 1/2010 , Seite 34

Sich in die innere Dynamik der Musik hineinversetzen, ihre Energien und Gegensätze ausloten und bis an ihre Grenzen treiben, die Gesten und Charaktere der Musik lustvoll ver­kör­pern: ein expressiver und experimentierfreudiger Umgang mit den Mög­lichkeiten der Musik entsteht immer im Zusammenspiel von Musik und Körper. Gerade im An­fangsunterricht kann der Einsatz von Materialien wie Bällen, Jonglier­tüchern, Seilen, Schlägeln und Gummi­bändern ­wertvolle Impulse zu einem körper­fundierten Musizieren geben.

Zwei meiner Schülerinnen spielen in ihrer Ensemblestunde einen bulgarischen Volkstanz. Der markante Betonungsrhythmus sorgt für viel Schwung von Beginn an: Alle tänzerische Energie zielt unmittelbar auf die Eins im Takt, um von dort über den nachschlagenden Quintsprung elastisch abgefedert und in den folgenden Takt umgelenkt zu werden. Mit vielen kurzen Repetitionen und kleinen Abschnitten entsteht ein Ostinato-Charakter, der die Idee einer unaufhörlichen Steigerung und Beschleunigung geradezu herausfordert.
Um diesen tänzerischen Elan, vor allem aber die Lust am Spiel mit den tänzerischen Kräften möglichst gut zu entfalten, bringe ich einen handlichen Gymnastikball ins Spiel.1 Gemeinsam singen und deklamieren wir den Rhythmus und erproben zunächst verschiedene Möglichkeiten, den Ball im Metrum der Musik zu werfen und zu fangen. Die Aufgabe besteht dabei darin, die Wurfbewegung und die dazu nötige Energie genau auf die musikalische Zeitfolge von Schwer und Leicht abzustimmen. Von jungen Schülern und Schülerinnen verlangt das bereits ein hohes Maß an musikalisch-körperlicher Koordination und „Audiation“.2

Tänzerischer Über­schwang: Accelerando mit Gymnastikball

Zur vollen Intensität des Ausdrucks aber steigern wir uns über das Prellen des Balls auf den Boden. Denn durch seine elastischen Eigenschaften springt er zwar gut auf, allerdings kann und muss man – anders als etwa bei einem festen Gummiball – viel Schwung in die Bewegung einbringen. Automatisch sind also auch die Arme und der Oberkörper gefordert. Rhythmisches Prellen und Auffangen im ganztaktigen Metrum verschmelzen dabei zu einem einzigen Bewegungsablauf: Der Schwerpunkt des Oberkörpers muss im Prellen hinter den Ball gebracht werden, die geöffneten Händen fangen die Energie des Auftriebs auf und führen sie mit einer neuen Schwungbewegung in die nächste Prellung. Diese Lust am Schwungholen, am Energie­abgeben in einer organischen Bewegung zur Musik verstärkt sich noch als Ensembleübung. Wir stehen im Kreis und „prellen“ uns den Ball der Reihe nach gegenseitig in die geöffneten Hände (wobei die Werferin natürlich die Verantwortung tragen muss). Beina­he automatisch beschleunigt sich das Tempo in einem kontinuierlichen Accelerando, das aus der körperlichen Bewegung he­raus entsteht. Unser Tanz steigert sich unweigerlich ins Überschwängliche.
Wie aber überträgt man diese intensive Bewegungserfahrung und elementare Ausdruckslust auf das Instrumentalspiel? Zunächst müssen wir unser Tempo wieder etwas drosseln – aber auch das geschieht über die Prellbewegung, ohne dass das Schwungprinzip verloren geht. Eine grundsätzliche Methode besteht zunächst im Vereinfachen der Melodie, wobei aber gerade die expressiven Grundelemente des Tanzes beibehalten werden müssen. Möglich ist das beispielsweise über das rhythmische Spielen einer zweiten Stimme auf den Grundtönen der Harmonie. In unserem kleinen Ensemble sind nun drei Rollen zu vergeben, die wir wechselweise ausfüllen: ein „Schwungdirigat“ mit dem Ball, eine rhythmisierte Begleitung in Grundtönen und schließlich die vollständige Melodie. Um möglichst dicht am tänzerischen Ausdruck zu bleiben, spielen wir zunächst nur die ersten vier Takte, auswendig und in ostinater Wiederholung. Es zeigt sich, dass nebenbei auch Atmung und Artikulation von unserer Bewegungserfahrung profitiert haben: Nicht nur kommen Begleitung und Tanzmelodie exakt zusammen, auch die Intonation der Quinte zum Grundton bereitet keine Schwierigkeiten.

1 Die Idee des Einbezugs von Materialien ist von der ­Arbeit des Gordon-Instituts (GIFM) in Freiburg inspiriert. Zahlreiche Unterrichtsbeispiele dazu finden sich in: ­Wilfried Gruhn: Lernwelt Musik, Freiburg 2007.
2 Die Fähigkeit zur Koordination von Körperbewegung und Atmung mit der Musik ist eine wesentliche Voraussetzung und eine zentraler Inhalt der „Audiation“. Vgl. hierzu: Edwin Gordon: A Music Learning Theory For Newborn And Young Children, Chicago 2003, S. 77 ff.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 1/2010.