Schneider, Michael

Vom Wald und von den Bäumen

Struktur und Ornament bei Johann Sebastian Bach. Untersuchungen und ­Übungen anhand ausgewählter Sätze

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2009 , Seite 12

Der optische Eindruck eines Noten­bilds und dessen dahinter liegende Bedeutung in Sätzen Johann Sebas­tian Bachs führen immer wieder zu Fehleinschätzungen und zu Ver­zer­rungen bei der Ausführung. Im ­folgenden Beitrag wird mithilfe ­analytischer Übungen versucht, einen Blick hinter die Kulissen des Noten­blatts zu werfen, um die strukturelle Grund­substanz von der ornamentativen Ebene unterscheiden zu können.

Das Werk Johann Sebastian Bachs stellt ­einen Sonderfall in seiner Epoche dar. Dies empfanden bereits seine Zeitgenossen: Im Nekrolog von 1754 von Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola heißt es: „Seine Melodien waren zwar sonderbar; doch immer verschieden, erfindungsreich – und keinem anderen Komponisten ähnlich.“ Und Johann Adolf Scheibe schreibt im Critischen Musikus von 1745: „Dieser grosse Mann würde die Bewunderung ganzer Nationen seyn, […] wenn er nicht seinen Stücken durch ein schwülstiges und verworrenes Wesen das Natürliche entzöge, und ihre Schönheit durch allzugrosse Kunst verdunkelte.“ Und weiter: „Alle Manieren, alle kleine Auszierungen, und alles, was man unter der Methode zu spielen versteht, drücket er mit eigentlichen Noten aus, und das entzieht seinen Stücken nicht nur die Schönheit der Harmonie, sondern es machet auch den Gesang durchaus unvernehmlich.“
Die Kritik von Scheibe, dass Bach alle „unter der Methode“, also die gemäß der Verzierungstechnik anzubringenden Ornamente in „eigentlichen Noten“ ausschreibt, bezeichnet eine Praxis, die in dieser Konsequenz andere Komponisten nur selten – und wenn, dann häufig nur aus explizit pädagogischen Gründen – angewandt haben: Georg Philipp Telemann in seinen Methodischen Sonaten (wieder die Verzierungs-„Methode“!) oder Francesco Barsanti in einer einzigen seiner Flötensonaten. Die meisten Komponisten der Epoche – wie etwa Georg Friedrich Händel – notieren ihre langsamen Sätze in einer Mischung aus struktureller Simplizität mit gelegentlichen, aber keineswegs erschöpfenden Verzierungsvorschlägen. Bei Bach liegt der Fall auch insofern anders, als die ornamentative Ebene als struktureller Anteil mit in den gesamten Kompositionsprozess einbezogen ist und die Ornamente deshalb nicht beliebig austauschbar sind, ohne dass genuin bachsche Substanz verloren ginge.
Hier kann es nicht in erster Linie um theoretische Analyse oder musikwissenschaftliche Ergebnisse gehen. Meine im Rahmen meiner eigenen Unterrichts- und Musizierpraxis entstandenen Materialien, von denen ich im Folgenden einige in Ausschnitten vorstelle, sind in erster Linie als Interpretations- und Übe­hilfen gedacht. Die Erfahrung, dass man, bewusst oder unbewusst, ein Musikstück unterschiedlich spielt, je nachdem, wie weit man bestimmte grundlegende Strukturen auch verstandesmäßig erfasst hat, gilt für Werke Bachs in ganz besonderem Maße – und zwar vor allem wegen dessen expliziter Notationsweise.

Bachs Notation…

Eine Notation konnte zu Bachs Zeit sehr unterschiedliche Stadien eines möglichen Entfaltungsprozesses der letztlich zum Erklingen kommenden Musik wiedergeben. Ein großer Teil aller niedergeschriebenen Musik besteht nur aus auf das absolute Minimum reduziertem Text, bei dem nur die melodischen Umrisse und alle harmonischen Verläufe aufgezeigt sind (Beispiele: Corellis op. 5 in der unverzierten Version oder Loeillets Blockflötensonaten). Darüber hinaus finden sich zahl­reiche Zwischenstufen bis hin zum Extrem bachscher Komplexität, die in seismografischer Präzision kleinste Regungen einer mög­lichen Ausführung nachzeichnet.
Die für einen in der romantischen Tradition ausgebildeten Orchestermusiker gültige Regel, dass man das zu spielen oder zu singen habe, „was geschrieben steht“, gilt für viele Notentexte des 17. und 18. Jahrhunderts gerade nicht. Im Gegenteil: Es wird vielmehr vom Spieler verlangt, dass er spontan die Skizzenhaftigkeit eines Verlaufs oder einer Idee erkennt und eben nicht das wiedergibt, was auf dem Papier steht, sondern sogleich eine persönliche und elaborierte Version davon. Dieses Recht hätte sich ein berühmter Opernsänger oder Instrumentalsolist auch nie­mals nehmen lassen. (Bach hat nie für berühm­te Sänger seiner Zeit komponiert; nicht auszudenken, was passiert wäre, er hätte wirk­lich für Dresden Opern komponieren dürfen!)
Meine folgenden Übungen befassen sich hauptsächlich damit, bachsche Texte in ein hypothetisches Stadium der Niederschrift struktureller Notation zu überführen, so wie es andere Komponisten in der Regel hinterlassen hätten. Auf deren Folie können dann die ornamentativen Verästelungen des bachschen Texts umso stärker hervortreten.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2009.