Doerne, Andreas

Musizieren lernen – auch außerhalb von Unterricht?

Ein Symposium zu formalen und informellen Lern- und Lehrprozessen bei der Entwicklung instrumentaler und vokaler Fähigkeiten in Wien

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 3/2009 , Seite 38

Mehr als zwei Drittel dessen, was Menschen im Laufe ihres Lebens lernen, lernen sie außerhalb von Bildungsinstitutionen und ohne das Zutun eines Pädagogen. Denn Menschen haben einen angeborenen Drang zu lernen, dem sie auch mit Lust und Beharrlichkeit folgen, solange sie nicht durch äußere oder innerpsychische Störeinflüsse daran gehindert werden. Diese Form des „natürlich“ sich vollziehenden Lernens wird als informelles Lernen bezeichnet. Es beinhaltet alles vom unbewussten und nicht-intentionalen sozialisatorischen Lernen über das bewusste, aber trotzdem nicht-intentionale beiläufige Lernen bis hin zum bewussten und intentionalen selbst gesteuerten Lernen eines Autodidakten.
Der Konstruktivismus – in seiner gemäßigten Form die momentan einflussreichste Lerntheorie – weist darauf hin, dass jedes bedeutsame Lernen immer ein Produkt eigener Tätigkeit, genauer gesagt der mentalen Konstruktion des Lernenden ist. Lernen kann zwar von außen angeregt werden, ist aber letztlich weder in seiner prozessualen Komplexität steuerbar noch in seinen individuellen Ergebnissen vorhersehbar und folgt auch sonst keinem deterministischen Prinzip. Folglich gibt es eine Vielzahl an Lernbedürfnissen, Lernformen und Lernwegen (nämlich so viele, wie es Menschen gibt), denen eine lernadäquate Instrumentalpädagogik nicht mit der vielerorts zur Gewohnheit geronnenen inhaltlichen und unterrichtsorganisatorischen Monokultur, sondern mit einer entsprechenden Vielfalt begegnen müsste.
Allein diese beiden Prämissen des Symposiums stellen einen Angriff auf das traditionelle Selbstverständnis der Pädagogik dar, demzufolge bei genügend sorgfältiger Ausarbeitung der methodischen Mittel sowie einer dezidierten Planung des Unterrichtsgeschehens allen Menschen alles kontrolliert „vermittelt“ werden kann – mehr noch: dass ohne die Anwendung professioneller didaktischer Vorgehensweisen und formaler Unterrichtssettings überhaupt kein nachhaltiges Lernen stattfinden kann. Dessen bewusst, äußerte Studiendekan Wolfgang Heißler in seiner Begrüßungsrede zu Beginn des Symposiums auch halb im Spaß die Hoffnung, das subversive Thema möge am Ende nicht die Abschaffung der gastgebenden Universität für Musik und darstellende Kunst Wien nach sich ziehen. Obwohl es so natürlich nicht kam, atmeten die im Laufe des Kongresses sich abzeichnenden Grundgedanken doch einen reformatorischen, fast könnte man sagen einen revolutionären Geist.
Nach einer überzeugenden Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen informellen Lernens durch Peter Röbke sowie einer wissenschaftlichen Fundierung der Begriffe von formalem, nicht-formalem und informellem Lernen durch Peter Mak war schnell klar, dass es nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch der beiden Pole von formalem und informellem Lernen geht. Ulrich Mahlert verwies entsprechend darauf, dass sich selbst in der hochgradig formalisierten und akademisierten Ausbildung klassischer Musikerinnen und Musiker vielfältige Anteile informellen Lernens aufspüren lassen und dass Lehrkräfte sich von pädagogischen Omnipotenzfantasien verabschieden müssten, um diese Bereiche wahrnehmen und wertschätzen zu können. Dass informelles Lernen nicht immer geradlinig verläuft und mitunter längere Umwege mit sich bringt, hält Mahlert nicht für eine Schwäche, sondern eine Stärke dieser Lernform. Denn aus eigener Kraft gemeisterte vermeintliche Irrwege machten stark. Da zu den Menschenrechten das Recht gehöre, Fehler machen zu dürfen, sei eine Pädagogik, die auf Vermeidung von Fehlern und Irrwegen aus ist, verfehlt.
Jan Hemming, Harald Huber und Lucy Green beleuchteten mit ihren Referaten anschaulich die Bedeutung informellen Lernens im Bereich der Popularmusik, was durch den Drummer der Christina-Stürmer-Band, Klaus Pérez-Salado, in einer Podiumsdiskussion mit anderen „eigensinnigen“ Musikerinnen und Musikern mit dem schönen Ausspruch bestätigt wurde: „Meine besten Lehrer sind eh auf den Alben.“ Viele erfolgreiche Popular- und JazzmusikerInnen haben nie eine Musikschule von innen gesehen und sich auch sonst nicht um langwierige formale Instrumentalunterweisung bemüht. Und wenn doch, dann war es in ihren Augen bloß eine Ergänzung zu ihrem selbst gesteuerten Lernen. Ein so konsequenter Entzug vor künstlerischer Fremdbestimmung durch Lehrer, Schulen und musikalische Konventionen nötigt Respekt ab. Umso wichtiger, dass diese durch artenreichen Wildwuchs gekennzeichneten Lernlandschaften nicht von der Pädagogik im Stile einer Kolonialmacht okkupiert werden. Sollen diese Landschaften nutzbar gemacht werden, ist eine sensible Erforschung mit unbedingtem Respekt vor der Kultur und den Eigenarten ihrer Ureinwohner erforderlich.
Während der drei Tage konnte man beobachten, wie sich das Symposium „entwickelte“, indem immer wieder neue Fragen aufgeworfen wurden. Beispielsweise diese: Gibt es überhaupt formales Lernen oder ist Lernen nicht immer auf gewisse Art und Weise der Kontrolle des Lehrenden entzogen und somit informell? Wie muss man sich andersherum ein informelles Lehren vorstellen, das wie ein Widerspruch in sich selbst erscheint? Ist die Diskussion um formales und informelles Lernen – psychoanalytisch betrachtet – nichts weiter als die Verdrängung von unbewusst wahrgenommenen Defiziten der Instrumentalpädagogik durch Schaffung eines künstlichen Ersatzdualismus? Oder muss man doch sagen, dass die Kategorien formal-informell zwar immer als in einem vielfältigen Lernen aufgehobene Einheit in Erscheinung treten, ihre Benennung aber sinnvoll ist, um überhaupt ein Bewusstsein für eben diese potenzielle Vielfalt des Lernens zu schaffen?
Eine für die instrumentalpädagogische Praxis zentrale Frage wurde jedoch leider nicht gestellt: Wie kann eine Musik(hoch)schule aussehen, die formale Lehre und informelles Lernen nicht nur nebeneinander zulässt, sondern sie unter inhaltlichen, organisatorischen, sozialen, materialen und architektonischen Gesichtspunkten so miteinander verknüpft, dass Lernfreiräume entstehen, in denen jeder seinem individuellen Bedürfnis entsprechend lernen kann?
Am Ende dieses hervorragend organisierten, inhaltlich höchst aktuellen Symposiums, das ebenso alte Probleme klären konnte, wie es neue Zweifel gesät hat, hätte der viel zitierte Satz von Bertolt Brecht stehen können: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Was kann Wissenschaft Besseres leisten?

Buchtipp
Die Beiträge des Symposiums erscheinen im September 2009 in der Buchreihe „üben & musizieren – texte zur instrumentalpädagogik“:

Peter Röbke/Natalia Ardila-Mantilla (Hg.):
Vom wilden Lernen. Musizieren lernen – auch außerhalb von Schule und Unterricht,
Mainz 2009, ca. 172 Seiten, 14,95 Euro, Bestell-Nr. UM 5006

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2009.