Hindemith, Paul

Praeludium für Violine allein

hg. von Michael Kube

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2008
erschienen in: üben & musizieren 2/2009 , Seite 59

Bei Hindemith nichts Neues? Von wegen! Fasziniert nimmt man zur Kenntnis, dass es auch auf vertrautem, vermeintlich zur Gänze erschlossenem Terrain immer wieder staunenswert Unbekanntes zu entdecken gibt. Im Jahr 2002 erschien bei Schott erstmals die vollständige Fassung der Sonate op. 11/6 für Violine solo samt zweier bis dahin verloren geglaubter Sätze – eine kleine Sensation.
Nun hat Schott in Sachen Hindemith mit einem weiteren bisher unveröffentlichten Stückchen für Geige allein noch einmal nachgelegt. Die vorliegende Miniatur, ein Präludium von nur 46 Takten, schrieb Hindemith am 30. November 1922 in Kopenhagen während einer Konzertreise mit dem Amar-Quartett. Gewidmet hat er sie dem Geiger Thorvald Nielsen, wohl als Dank für dessen Einsatz zugunsten eines Konzert-Engagements des noch jungen und aufstrebenden Amar-Quartetts, eines Ensembles, dessen Mitglieder sich gerade einmal 15 Monate zuvor zusammengefunden hatten. Hindemith komponierte das Stück am Tag des wichtigen Kopenhagener Konzerts, abends spielte er ein anstrengendes Programm ausschließlich neuer Musik mit Werken von Honegger, Webern und seinem eigenen Quartett op. 16.
Der Umstand belegt ein weiteres Mal jene schon legendäre Leichtigkeit, mit der der junge Komponist Werke aufs Papier zu werfen vermochte. In diesem Zusammenhang erinnert man sich der Geschichte vom Scherzo für Bratsche und Cello. Als Hindemith sein 2. Streichtrio mit Szymon Goldberg und Emanuel Feuermann aufnahm, blieb wider Erwarten eine Seite der letzten Schellack-Scheibe frei. Was tun? Er setzte sich abends nach Beendigung der Aufnahmesitzungen hin, schrieb ein Scherzo für Viola und Cello (Goldberg, der Geiger war bereits abgereist) und nahm das beileibe nicht einfache Stückchen am folgenden Morgen zusammen mit Feuermann auf.
Das vorliegende Präludium, eine virtuose Caprice, stammt aus Hindemiths „Bürgerschreck“-Phase der frühen Zwanzigerjahre – zeitnah entstanden u. a. das 3. Streichquartett, die beiden Violinsolosonaten op. 31 und die „Kammermusiken“ – und erinnert im Duktus an den berühmten 4. Satz der Solosonate für Bratsche op. 25/1 („Tonschönheit ist Nebensache!“). Die Klangsprache ist zeittypisch provokativ antiromantisch, frisch, mutwillig, dissonant, motorisch geprägt. Ich könnte mir die kaum eine Minute dauernden 46 Presto-Takte gut als virtuose Zugabe eines Violinsolo-Programms vorstellen. Eine wertvolle Ergänzung ist das Werk allemal, luxuriös die Notenausgabe mitsamt Faksimile-Abdruck des Manuskripts.
Gleichfalls zum ersten Mal erscheinen jetzt aus dem Nachlass von Bertold Hummel vier leichte Stücke für Violine und Klavier „…und ein Tango“. Es handelt sich dabei um kleine persönliche Geburtstagsgeschenke musikalischer Art, geschrieben in den letzten Lebensjahren zum Zwecke des Vortrags bei Familienfesten. Drei der Miniaturen – Albumblatt, Arietta und Tango – sind Inken Hummel, der Gattin des Komponisten und selbst Geigerin, gewidmet, das zärtliche Ständchen komponierte Großvater Hummel 2001 zur Geburt seiner Enkelin Johanna Maria.
Immer wieder verblüffend ist für mich der Facettenreichtum des Komponisten, sind die Vielfalt und Vielgestaltigkeit seines musikalischen Schaffens. „Als Komponist fühle ich mich der Gemeinschaft, in der ich lebe, verpflichtet. Mein Bestreben ist es, einen bescheidenen Beitrag zu leisten bei dem Bemühen, die Welt humaner und lebenswerter zu gestalten. Das Dreieck Komponist – Interpret – Hörer ist für mich eine stete Herausforderung, die es auf verschiedenste Weise zu bestehen gilt: auf dem anspruchsvollen Niveau einer virtuosen Orchester- oder Kammermusikpartitur bis hin zum sehr ernst genommenen Komponieren für Laienmusiker und für Kinder. Ein l’art pour l’art-Standpunkt ist mir immer fremd gewesen… [Ich] habe mich schon in den 50er Jahren einem Pluralismus der Kompositionsmethoden geöffnet. Von Kindheit an mit der Gregorianik vertraut, interessierten mich zunehmend modale Verfahrensweisen bis hin zur Dodekaphonie. Neben klanglichen Erweiterungen wie die der Polytonalität oder Messiaens Klangfarbentheorien galt meine Neugier vor allem rhythmischen Errungenschaften anderer Kulturkreise sowie der Einbeziehung elektronischer Möglichkeiten… Meine Tonsprache ist pluralis­tisch, sie bedient sich unorthodox der Modalität, der Polytonalität bis hin zu 12-Ton-Feldern; sie bedient sich einfacher rhythmischer Modelle bis hin zu vielschichtigen metrischen Überlagerungen.“
Trotz des hier skizzierten pragmatischen Ansatzes und großer stilistischer Variabilität verfügte Hummel über eine jederzeit unverwechselbare persönliche Klangsprache. So einfach, so tonal diese vier kleinen Stückchen auch gehalten sein mögen, sie sind doch vom ersten Ton an unmissverständlich echter Hummel. Ihre melodische und rhythmische Fasslichkeit lassen sie als für Kinder ideal geeignet erscheinen, sie sind auch für Laien völlig problemlos (vom Blatt) spielbar. Darüber hinaus verströmen sie, die Zuneigung des Komponisten zu Frau und Enkeltochter in Töne sanfter Poesie fassend, einen ganz besonderen Charme. Auch diese Notenausgabe, ebenfalls mit Faksimile-Abdruck der Manuskriptseite des Ständchens, ist perfekt gestaltet.
Herwig Zack