Tröger, Beate

Musik war das prägendste Erlebnis in meinem Leben

Beate Tröger sprach in Berlin mit Wolfgang Schlüter über ­seinen Roman „Anmut und Gnade“

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 1/2009 , Seite 42

Paris, 2003. Unruhen erschüttern die Banlieues. Während die Stadt von Straßenschlachten erschüttert wird, probt ein österreichisches Kammerensemble die Aufführung einer Oper Jean-Philippe Rameaus: So erzählt es Wolfgang Schlü­ter in seinem Roman „Anmut und Gnade“. Walter Mardtner ist Pressereferent dieses Orchesters. Bei einem Antiqua­riatsbesuch fällt ihm ein Konvolut alter Schriften in die Hände, das von einem anderen Krieg erzählt: dem einstmals ebenso erbitterten wie geistvollen Kampf zwischen den Traditionalisten und Neuerern um die Vorherrschaft an der Pariser Oper, dem so genannten Buffonistenstreit. Kombattanten sind ein König, für den die Oper vor allem höchste Kunst der höfischen Repräsentation ist, Rameau und der Kreis der Enzyklopädisten, allen voran der empfindsame und aufrührerische Jean-Jacques Rousseau. Wolfgang Schlüter (*1948) studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Hamburg, Berlin und Wien. 1982 promovierte er an der TU Berlin mit einer Arbeit über die Rezeption Gustav Mahlers. Von 1984 bis 1993 wirkte er für die Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld an der Herausgabe der Werke Arno Schmidts mit. Heute lebt Schlüter als freier Schriftsteller abwechselnd in Berlin und Irland. „Anmut und Gnade“ ist 2006 bei Eichborn erschienen und stand 2007 auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse. Anfang 2009 wurde die Taschenbuchausgabe bei Fischer herausgegeben. 2002 wurde sein musikalischer Roman „Dufays Requiem“ bei Eichborn veröffentlicht (inzwischen vergriffen). In diesem Herbst wird ein neuer Roman von Wolfgang Schlüter erscheinen.

Herr Schlüter, Sie haben gerade ein neues Buch fertiggestellt.
Ja, es ist vor einer Woche fertig geworden. In dem Buch geht es viel um Malerei, vor allem um die Landschaftsmalerei Italiens zur Goethe-Zeit, insbesondere um die Vesuv-Malerei in Neapel.

Wird es wie „Dufays Requiem“ ein Krimi werden?
Nein, kein Krimi, aber wieder ein Roman mit einigen Rätseln. Es geht um einen deutschen Landschaftsmaler, eine fiktive Gestalt, die verschwindet. Was sie hinterlässt, ist ein Tage- oder Skizzenbuch, das einem Ge­hilfen des Leibarztes von Admiral Lord Nelson in die Hände fällt, der das Buch transkribiert. Mein Buch wird chronologisch gestaffelt sein, es geht etwa bis 1750 zurück und schreitet dann wieder in der Zeit fort. Es ist zyklisch, genauer gesagt, konzentrisch geordnet, das heißt, jede Zeitebene hat zwei Kapitel. Das erste und das letzte Kapitel spielen im Berlin der Gegenwart. Man kann den Aufbau mit ineinander gesteckten russischen Puppen vergleichen.

Haben Sie lange daran gearbeitet?
Ich habe lange daran gearbeitet, weil es so viel Material gab. Das macht die Arbeit an meinen Büchern immer langwierig. Die meiste Zeit, die ich an einem Buch arbeite, brauche ich für die Recherche, für Exzerpte und Lektüren. Wenn ich das Material lange genug im Kopf ausgebrütet habe, geht die Niederschrift recht schnell, im konkreten Fall waren es fünf oder sechs Monate. Aber die Arbeit vorher, die dauert sehr lange.

Wie sind Sie zum literarischen Schreiben gekommen?
Ich habe einfach gemerkt, dass ich zum wissenschaftlichen Schreiben im strengen Sinne nicht tauge, sondern dass bei mir schon früh an der Universität das wissenschaftliche Arbeiten in hohem Maße mit dem Spekula­tiven oder mit dem Poetischen verknüpft war, was auch daran lag, dass ich mich mit romantischer Musiktheorie und -ästhetik beschäftigt habe. Es geht mir auch immer um Übersetzungsphänomene. Ich habe schon während des Studiums mit dem Übersetzen angefangen, und so ergab sich schnell eine Mehrgleisigkeit des wissenschaftlichen Arbeitens und des Schreibens von eigenen Texten, wobei ich dann auch noch hinzufügen sollte, dass ich sehr von Kommilitonen beeinflusst wurde, die damals selbst schon als Schriftsteller arbeiteten. Expe­rimentelle Strömungen wie New Wave und Fluxus, die damals im Schwange waren, haben uns beeinflusst.

Wann genau war das?
Das war Mitte der siebziger bis Anfang der achtziger Jahre. Und Anfang der achtziger Jahre hatte ich das Studium beendet und versuchte eine Weile, mit dem Übersetzen und Schreiben weiterzuleben. Das ging schlecht. Dann gab es ein zehn Jahre währendes Intermezzo bei der Arno Schmidt Stiftung in der ­Lüneburger Heide. Dort merkte ich aber recht schnell, dass mir diese dienende Art des Umgangs mit Texten, diese editorische oder philologische Arbeit nicht genügt, dass der Drang, selbst zu schreiben, immer stärker wurde. So war ich fast froh, als ich dort ent­lassen wurde. Ich konnte mich ganz auf mein eigenes Schreiben konzentrieren und weiter übersetzen. Das Übersetzen habe ich jetzt aber aufgegeben, es ist zu undankbar.

Musik spielt für Sie eine ganz wichtige Rolle. Wie sind Sie zur Musik gekommen?
Es gibt eine starke Affinität durch meinen Vater. Mein Vater war ein guter praktischer Musiker, der Cembalo spielte und Geige, Letzteres im Streichquartett. Musik war in meinem Leben schon immer präsent. Entweder durch das Spiel meines Vaters oder durch Schallplatten, von denen wir schon damals ein kleines Schränkchen voll hatten. Es gibt eine ganze Reihe solcher prägender Erlebnisse. Zum Beispiel erinnere ich mich, dass ich als ganz kleines Kind in einem Gitterbett gelegen habe und immer etwas Angst vor der Dunkelheit hatte, sodass die Eltern die Tür einen spaltbreit offen ließen. Eines Abends drang durch den Spalt nicht nur Licht, sondern auch der Klang eines Quartettsatzes herein. Meine Eltern hatten Gäste und es wurde musiziert. Heute weiß ich, dass es der langsame Satz aus dem Quartett op. 76,5 von Joseph Haydn war, ein Largo. Das Gefühl beim Zuhören habe ich nicht vergessen.
Ein anderes Stück, das mein Vater mir oft zur Freude vorspielte, ist die Posthorn-Serenade KV 320 von Mo­zart. Als Kind wartete ich sehnsüchtig auf das Erscheinen des Posthorns, das Mozart ja erst ganz am Schluss, im letzten Menuett, einsetzt. Und ich erinnere mich gut, dass ich immer etwas gelangweilt, aber auch geduldig auf den Einsatz des Posthorns wartete. Es kam dann so, dass ich als Kind auch selbst Klavier­unterricht bekam und im Schulchor mitsang und ich erinnere mich, dass unser Schulchorleiter das Terzett der drei Knaben „Bald prangt, den Morgen zu verkünden“ aus der Zauberflöte für den Chor eingerichtet hatte. Ich sang damals als Zehnjähriger noch Sopran und dieses Stück faszinierte mich. Ich wollte hören, wie es wirklich klänge. So habe ich zum erstenmal aus eigenem Impuls die Schallplattensammlung der Eltern durchforstet. Ich fand eine alte Aufnahme und auf diese Weise lernte ich mit den tech­nischen Geräten umzugehen und habe mir binnen kurzer Zeit einen Grundstock erhört. Es waren vor allem die späten Mozart-Symphonien.
Mozart spielte für mich eine ganz große Rolle, ein, zwei Jahre später kam dann durch das großelterliche Haus noch Haydn mit der Symphonie 101 „Die Uhr“ dazu und so baute sich das Ganze nach und nach zusammen. Mit 13 begann ich selbst mit dem Schallplattensammeln. Mit 16, noch als Schüler, trug ich mich dann in die Volkshochschule ein, dort wurden Kurse angeboten über Mahler und Bruckner, zwei Komponisten, die in meinem Elternhaus überhaupt keine Rolle spielten, als Avantgarde verpönt waren. Auf diese Weise ergab sich ganz von selber der Wunsch, nach dem Abitur Musikwissenschaft zu studieren und das habe ich dann ja auch getan. – Ja, Musik war tatsächlich das prägendste Erlebnis in meinem Leben. Es kommen einige Landschaften hinzu und natürlich einige Menschen.

Um auf „Anmut und Gnade“ zu kommen: Sie sprachen von der Schallplattensammlung Ihrer Eltern und von der eigenen Sammlung. Inwiefern ist das Sammeln, die große Freude am Detail, die sich im Roman auch sprachlich realisiert, zentral für Sie?
Nun, die Freude am Detail ist tatsächlich zentral. Aber diese Art des Ausdrucks ist zum Teil auch die Trauer darüber, dass bestimmte Dinge verschwunden sind oder verschwinden. Und dieses Aufzählen, das ja auch ein allegorisches Verfahren ist, ist auch insofern wichtig, als die Dinge, mit denen in diesem Buch umgegangen wird, Sinnbildcharakter haben. Dieses allegorische Verfahren hängt sehr eng mit dem Sammeln zusammen. Es sind tatsächlich Dinge oder Objekte, weniger menschliche Verwicklungen oder psychologische Probleme, die in meinen Büchern eine sehr große Rolle spielen. Das wird ihnen von der Kritik auch immer wieder vorgeworfen: dass es in ihnen nur um blasse Ideenträger geht, dass es kein wirkliches Leben darin gibt. Ich bin solchen Vorwürfen gegenüber einiger­maßen hilflos, weil mich das Psychologische einfach nicht in dem Maße interessiert. Insofern scheide ich auch sehr stark zwischen Schreiben und Leben und hoffe nicht, dass ich im Leben einen ähnlich dinglichen Bezug zu Menschen habe. Ja, beim Schreiben geht es mir tatsächlich vor allem um Ideen und um Gegenstände, in all ihren Verknüpfungen, Anspielungen und Mehrfachbedeutungen.

Ihr Buch lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln lesen: soziologisch, historisch, musikwissenschaftlich, philosophisch. Lassen sich diese Ebenen überhaupt einzeln betrachten?
Selbstverständlich gehören die Dinge alle zusammen, aber um die Verklammerungen zu sehen, muss man natürlich fokussieren.

Bestimmte Figuren verkörpern bestimmte Perspek­tiven. Nehmen wir die soziologische Perspektive heraus: Der Taxifahrer, der die Hauptfigur Walter Mardtner zur Opéra Bastille bringt, kann als habi­litierter Germanist mit seiner Profession kein Geld verdienen. Oder die Jugendlichen in den Banlieues, die den Aufstand proben, sie verkörpern auch eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe. Ist Ihr Roman gesellschaftskritisch?
Es ist ein Buch, das nicht nur gesellschaftskritisch ist, sondern überhaupt kritisch. Aber Anmut und Gnade ist vielleicht stärker als meine früheren Bücher geprägt von den aktuellen politischen und sozialen Erfahrungen der letzten Jahre. Die sind tatsächlich stärker eingeflossen, als es früher der Fall war, vielleicht weil ich das selber stärker erlebt habe. Dazu gehört die Erfahrung einer gewissen Armut, nämlich in einer Großstadt wie Berlin auf einem Niveau zu leben, das einem die Mög­lichkeiten, die das Leben bietet, einigermaßen versperrt.
Das andere ist die Erfahrung des Widerstands dagegen. Die Jugendlichen in den Banlieues reagieren ja darauf. Was noch dazukommt und mich viel mehr aufgewühlt hat, ist die Erfahrung des Bilderverbots durch die Offenbarungsreligionen. Dabei meine ich nicht nur den Islam, sondern auch das Christentum und das Judentum, wobei natürlich der Karikaturenstreit ein besonders hervorstechendes Beispiel war – und seine Auswirkungen, etwa das Verbot der Bilder, wie es sich in der Absetzung der Oper Idomeneo hier in Berlin ge­äußert hat.
Hier setzt das Buch an. Es geht ja in der Barockoper immer um Bilder, um das Problem des ästhetischen Bildes, das eine Kunstform repräsentiert, die, und das ist nun das Merkwürdige, von den Aufklärern Frankreichs, von den französischen Intellektuellen wie bei­spielsweise Diderot, abgelehnt wurde. Diese eigen­artige Dialektik, dass die Aufklärung einerseits etwas ablehnt aus einem religionskritischen Impuls, was andererseits sich durch die Hintertür wieder ein­schmuggeln muss, denn eine Aufklärung ohne Bilder ist ja überhaupt nicht denkbar – diese Dialektik hat mich umgetrieben.

Ich habe mich zwischendrin gefragt, wie sehr Ihr Denken von der Kritischen Theorie beeinflusst ist. An manchen Stellen liest sich Ihr Buch tatsächlich wie eine literarische Übersetzung der „Dialektik der Aufklärung“.
Das ist wohl nicht zu übersehen. Manche Kritiker haben ja darauf hingewiesen, aber auch Freunde. Die haben mich getadelt und gesagt, ich solle doch endlich einmal wegkommen von dieser Vaterbindung an Adorno. Aber die Kritische Theorie war die wichtigste Prägung meiner Jugend, schon als ich als Sechzehnjähriger zum erstenmal Adornos Mahler-Buch in die Hand genommen habe. Man muss sich das vorstellen: Mitte der sechziger Jahre war Adorno so etwas wie ein geistiger Terrorist, zumindest in den engen Verhältnissen der damaligen Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Ich hatte damals bei der ersten Lektüre kaum etwas verstanden, es war alles sehr verschlungen, aber ich merkte, dass da etwas ganz Außergewöhnliches geschrieben war und dass es an mir läge, das zu enträtseln, das war eine Art Lebensaufgabe.
Als ich 1969 an die Universität kam, war Adornos Denken in den geisteswissenschaftlichen Seminaren sehr präsent, was sich allerdings auch, bedingt durch seinen Tod, sehr schnell geändert hat. Mir war es nicht mehr möglich, nach Frankfurt zu gehen und bei ihm zu studieren, das hätte ich gerne getan. Aber ich hatte auch den Eindruck, dass ich ihm nach seinem Tod die Treue halten müsste, gerade an meinem Institut, wo sehr schnell Einflüsse des französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus und auch sehr konservative Ansätze Einzug hielten. Die Wirkung Adornos hat für mich bis zu einem Grad der Identifikation, die aus wissenschaftlicher Sicht wohl abzulehnen wäre, nicht nachgelassen. Dass sie abfärbt, ist für meine Bücher unvermeidbar und unverzichtbar. Es ist ja nicht nur so, dass man sich mit diesen Texten ein Gedankengebäude anliest, sondern die Kritische Theorie ist etwas, das die Wahrnehmung sehr stark prägt. Ich habe heute beim Lesen von Adorno und Benjamin noch immer den Eindruck, dass es Gedanken wären, die sehr präzise vorbegriffliche Wahrnehmungen von mir zum Ausdruck bringen.

Heute sind diese Gedanken nicht mehr en vogue, hat man den Eindruck. Es scheint, als fehlte es überall an Zeit und man könnte nicht in Ruhe auf die Dinge sehen.
Adorno nennt das den langen geduldigen Blick aufs Objekt.

Ich möchte noch einmal auf die Rolle der Musik in Ihrem Buch zu sprechen kommen. Eine Zeitebene des Romans spielt im Frankreich während der Hochblüte der Barockoper. Zeitgleich blühen die Blumen der französischen Aufklärung. Und es gibt da sehr komplexe Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge sind sehr schwer zu fassen.
Ich wollte niemanden einschüchtern, sondern mit dem Buch eine Struktur entwickeln, die dieser unglaublich komplexen Zeit, zu der es auch erstaunliche Parallelen in unserer Zeit gibt, ein Denkmal setzt. Das war ja tatsächlich eine sehr kontroverse und dramatische Zeit. Das Buch wirkt zunächst vielleicht einschüchternd in der Verwendung des Begriffsmate­rials, das man sich aneignen muss. Dabei möchte ich keine Leser ausschließen, höchstens diejenigen, die überhaupt kein Interesse für diese Musik aufbringen können. Ich wünsche mir Leser, die neugierig sind und die nicht gleich aufgeben, wenn etwas zunächst dunkel bleibt, sondern einfach weiterlesen.

Warum haben Sie gerade diese Musik gewählt?
Darauf gäbe es mehrere Antworten. Entwicklungs­geschichtlich kann man die Frage ganz banal damit beantworten, dass mein damaliger Lektor mir den Vorschlag machte, ein Buch über die Barockoper zu schreiben. Barock war damals sehr im Schwange, auch in der bildenden Kunst. Es gab viele Ausstellungen und Operninszenierungen zu der Zeit. Ich nehme an, der Lektor hatte sich etwas vorgestellt, was durchtränkt wäre von Abenteuern und üppigen Gestalten, etwas Ausschweifendes und Opulentes. Als er mir den Vorschlag machte, wusste ich schon, dass das die Gelegenheit wäre, einen ganz besonderen Aspekt der Barockoper, nämlich die weniger opulente französische Barockoper zu wählen. Ich sagte also zu, stellte dieses „Auftragswerk“ aber unter die Bedingung, den Buffo­nis­tenstreit in den Mittelpunkt zu stellen. Die französische Oper des 18. Jahrhunderts war ja ein Brennpunkt der Politik, der Soziologie, der Philosophie. Und dass die bedeutendsten Köpfe der damaligen Zeit so unmittelbar in diesen Diskurs verwickelt waren, das hatte es vorher meines Wissens in dieser Form nicht gegeben. Zum anderen hat mich gereizt, dass die französische Oper einen sehr engen Sprachbezug hat. Ich finde das, was Rameau oder in gewisser Weise vorher Lully gemacht hat, demjenigen weit überlegen, was Händel oder Vivaldi gemacht haben.

Woran liegt das?
Es liegt dran, dass ich nicht nur ein musikalischer, sondern auch ein Sprachmensch bin. Die französische Musik folgt der Sprache sehr viel genauer, während in der italienischen Oper die Sprache modo grosso eigentlich nur ein Stichwortgeber für musikalische Affekte ist. Diese großen Kantilenen sind sich in der italienischen Oper mit ihrer weiträumigen Musik selbst genug, die Sprache wird durch die Musik quasi ausgelöscht. Ich denke da immer an die Sprache als eine Art Codestreifen. Denken Sie sich dagegen in der französischen Oper etwa Lullys Vertonungen von Molière oder Quinault, das ist etwas ganz anderes.

In der Figur Rousseaus in Ihrem Roman kulminieren die Reflexionen über den Menschen und die über die Musik.
Rousseau sucht eine neue Musik und glaubt, sie in der italienischen Opera buffa gefunden zu haben. Ihr erstes Modell wurde in Paris sehr erfolgreich aufgeführt. Ihre Anhänger nannten sich „Buffonisten“ und darin liegt auch etwas Ironisches, denn das bedeutet ja, sich selbst als Spaßmacher zu bezeichnen. Was zum Streit geführt hat, ist im Einzelnen sehr komplex und spekulativ. Rousseau komponierte selbst eine Barockoper im Stil Rameaus, die auf scharfe Kritik Rameaus stieß. Es gab danach immer wieder Berührungspunkte, aber der Streit konnte nicht aufgelöst werden. Für Rousseau blieb der Erfolg aus, der arme Mann wurde sogar um sein Salär geprellt. Das alles sind Mosaiksteinchen. Die Enzyklopädisten wie D’Alembert und Diderot überwarfen sich mit Rameau, den sie am Anfang noch sehr geschätzt hatten. Das lag an Rameaus Interesse an der Theorie und damit machte er den Enzyklopädisten ihr Terrain streitig. Die daraus entstehende Debatte hat ihn bestimmt auch viel vom Komponieren abgehalten. Und später war sicherlich auch ein gewisser Alters­starrsinn dabei.

Der Dirigent in „Anmut und Gnade“ erinnert stark an Nikolaus Harnoncourt. Wissen Sie, ob Harnoncourt Ihren Roman gelesen hat?
Das glaube ich nicht. Er ist ja ein sehr vielbeschäftig­ter Mann, der vermutlich unglaublich viel liest, aber sicherlich wissenschaftliche und theoretische Texte, Quellen. Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen, dass der Erlmayr in meinem Buch eine synthetische Figur ist, die nicht in Harnoncourt aufgeht. Einige der Dinge, die die Figur sagt, sind eingeschmuggelte Zitate von anderen Dirigenten, etwa von Karl Böhm. Auch etwas von Ferenc Fricsay, der ein Pultgott meiner jungen Jahre war, steckt in der Figur. Und auch ein bisschen Hermann Scherchen, weniger als Mensch – er muss ziemlich schwierig gewesen sein – als eben als Musiker.

Der Erlmayr kam mir im Vergleich zu den anderen Figuren des Romans am ungebrochensten vor.
Ja, die anderen Musiker des Ensembles sind zwar auch eher ungebrochen. Sie sind aber im Vergleich zu Erl­mayr fast eindimensional, Erlmayr ist am weitesten ausdifferenziert in dieser Musikerschar. Er macht aber im Lauf des Buchs auch eine Wandlung durch. Am Anfang ist er sehr herrisch, ein bisschen zynisch, vielleicht auch frauenfeindlich, wenn er immer nur „Meine Herren“ zum Ensemble sagt. Aber als Mardtner krank ist, wendet sich Erlmayr ihm zu, auch am Ende, als Mardtner ihn im Probenraum besucht. Er wird durch die Musik ein anderer Mensch, er ist nicht mehr derselbe wie zu Beginn des Romans.

Glauben Sie also an so etwas wie eine heilende oder versöhnende Kraft der Musik?
Das ist eine sehr schöne Frage. In Dufays Requiem habe ich das ja abgestritten, habe die Musik als zerstörend dargestellt, als etwas, was einen in den Wahnsinn treibt. In Anmut und Gnade ist es umgekehrt. Wie im orphischen Mythos kann die Musik verändern und humanisieren. Sie zivilisiert. Und das wird gerade an Rameaus Musik sehr deutlich.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2009.