Cage, John

Chess Pieces

for Piano

Rubrik: Noten
Verlag/Label: C. F. Peters Corporation, New York 2006
erschienen in: üben & musizieren 3/2008 , Seite 63

Knapp 50 mal 50 Zentimeter misst das mit Noten beschriftete Schachbrett, das John Cage 1944 mit schwarzer und weißer Tinte sowie Gouache auf eine Holzfaserplatte gemalt hat und im Winter 1944/45 in einer mittlerweile legendären Schach-Ausstellung in der New Yorker Julien Levy Gallery ausstellte. Nach dem Ende der Ausstellung wurde Chess Pieces von einem Privatsammler erworben und tauchte erst 2005 bei einer Rekonstruktion der Ausstellung im Noguchi-Museum wieder auf.
Die aus Singapur stammende New Yorker Pianistin Margaret Leng Tan, eine durch zahlreiche CD-Aufnahmen ausgewiesene Cage-Spezialistin, erbat und erhielt bei dieser Gelegenheit die Erlaubnis, die auf die 64 Schachfelder verteilten Noten des Kunstwerks in lesbare Standardnotation umzuschreiben. Heraus kam eine in 22 zwölftaktige Teilstücke aufgeteilte und offenbar für ein Tasteninstrument gedachte Komposition, die Margaret Leng Tan zwischenzeitlich eingespielt hat und nunmehr in einer tadellosen Edition samt (englischsprachiger) Einführung vorlegt.
Die „Schach-Stücke“ stehen im alla-breve-Takt und sind überwiegend zweistimmig gehalten. Es herrscht eine Weiße-Tasten-Diatonik vor, die Stück für Stück diverse Modi (phrygisch, dorisch, äolisch, lydisch etc.) ansteuert. Alterierungen (b, fis, es) oder chromatische Passagen haben lediglich episodischen Charakter. Manchmal werden Achtel taktüberschreitend zu Dreiergruppen zusammengefasst, ostinate Tonwiederholungen und ganztaktige Pausen lockern das unspektakuläre Geschehen auf, das sich mit einem Tonumfang vom Kontra-H bis zum dreigestrichenen e begnügt. Dynamische Anweisungen des Komponisten existieren nicht.
Offenbar ging es Cage nicht darum, die Dramatik einer Schachpartie nachzugestalten – wie dies etwa Robert-Alexander Bohnke in seinem fünfsätzigen S-C-H-A-C-H-Zyklus von 1973 tut. Vielmehr scheint es die abstrakte Schönheit der binärfarbenen acht mal acht Quadrate zu sein, die Cage faszinierte. Seine Musikinschrift mag als eine Art potenzielle Kinetik des Schachspiels gelesen und gehört werden: Schritt für Schritt vorangehen, überraschende Sprünge tun, einander umkreisen, vorübergehend unisono agieren, alsbald eine vom Spielpartner sich abgrenzende Bewegungsform suchen und – immer wieder geduldig warten.
Rainer Klaas