Kühnl, Claus

Der beleidigte Papagei

Elf Miniaturen für Klavier, mit CD

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2006
erschienen in: üben & musizieren 6/2007 , Seite 60

Der Komponist der vorliegenden Stücke versteht sich in dieser Sammlung als „Brückenbauer“ zu den Meistern der Moderne, von denen er im Vorwort Messiaen, Stockhausen, Lachenmann und Nicolaus A. Huber nennt. „Spaß“ und „Schärfung des Verstandes“ sollen gleichermaßen erreicht werden. Für Ersteres gibt es u. a. Anregungen zu eigenen Improvisationsversuchen mit dem angegebenen Tonmaterial oder zur freien rhythmischen und dynamischen Gestaltung. Außerdem liefert eine kurze Einführung zu jedem Stück (die im Übrigen auch dem Publikum zu Gehör gebracht werden könnte) außermusikalische Assoziationen, die den Zugang zu der Musik erleichtern werden, denn diese ist trotz anschaulicher und zum Teil witziger Titel nicht immer eingängig.
Für das zweite Ziel gibt es weiterführende Aufgaben an den Spieler oder die Spielerin und analytische Kommentare, mit deren Hilfe die Gedankengänge des Komponisten nachvollziehbar werden und das Verständnis für die innere Logik der jeweiligen Komposition gefördert wird. Verschiedene Techniken aus der Musik des 20. Jahrhunderts (Zwölftontechnik, Verwendung messiaenscher Modi), einige in der neuen Musik verbreitete Arten der Klangerzeugung (Resonanzen, Nutzung von Spielgeräuschen) und spezielle rhythmische Phänomene (gleichzeitige Kopplung verschiedener Tempi, Polymetrik, nicht umkehrbare Rhythmen) werden erlebbar gemacht. Daneben kommen auch traditionelle kompositorische Verfahrensweisen vor (Transpositionen, Umkehrung, Krebs, rhythmische Vergrößerung und Verkleinerung, metrische Verschiebung von thematischen Gestalten) sowie Zitate bekannter Themen in ungewohnter Umgebung. Der erwähnte Spaß entsteht hier also wohl auch zu einem erheblichen Teil aus der Schärfung des Verstandes.
Ganz und gar nicht überflüssig sind Bemerkungen des Komponisten zur richtigen Erzeugung von Resonanzen (stummes Niederdrücken der entsprechenden Tasten nur bis zum Auslösepunkt, das heißt bis sich die Dämpfer heben) und zur Dynamik, die oft eine so genannte Aktionsdynamik ist: Das Zeichen für die Dynamik charakterisiert die Intensität der Aktion, nicht unbedingt aber die tatsächliche Lautstärke des erzeugten Klangs. Wie oft in der zeitgenössischen Musik ermöglichen die Stücke eine bessere Kenntnis des Instruments; z. B. verdeutlichen die Resonanzen im Vergleich mit real angeschlagenen Tönen gleicher (bzw. eben nicht ganz gleicher) Tonhöhe den Unterschied zwischen temperierter und akustisch reiner Stimmung. Ein anderes akustisches Phänomen – das Obertonspektrum einzelner Töne – wird zur kompositorischen Idee eines ganzen Stücks.
Die Stücke sind von moderater Schwierigkeit, große Griffe wurden vermieden, auch Pedal kommt nur sporadisch vor, dafür wird die Klaviatur in ihrer ganzen Breite benutzt. Claus Kühnls Sammlung unterstützt den bewussten Umgang mit zeitgenössischen Notentexten.
Linde Großmann