Wickel, Hans Hermann / Theo Hartogh

Musik und Hörschäden

Grundlagen zur Prävention und Intervention in sozialen Berufsfeldern

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Juventa, Weinheim/München 2006
erschienen in: üben & musizieren 6/2006 , Seite 68

Hörbehinderungen sind nach Arthritis und Bluthochdruck die häufigste chronische Erkrankung in Deutschland. Etwa 16 Millionen Hörbehinderte leben hier, jeder vierte Jugendliche zeigt schon Anzeichen von Hörschäden. Höchste Zeit also, dass etwas passiert!
Das Buch von Hans Hermann Wickel und Theo Hartogh ist eine sehr engagierte Schrift, in der kompetent und umfassend zu den Themen Hören, Hörschäden, Gehörschutz und vorbeugendem Verhalten aufgeklärt wird. Der Titel mag vielleicht andere Erwartung wecken, denn auf Musik wird eher am Rande – auf ca. 30 der 184 Seiten – eingegangen, aber auch zu diesem Thema wird fast alles Wesentliche gesagt.
Die Stärke des Buchs liegt in der hervorragenden Didaktik. Eine so gut lesbare Einführung in die Akustik, in die Physik der Schallstärkenmessung, in die komplexe Physiologie der Hörwahrnehmung und in die soziologischen Aspekte des Hörens ist mir im deutschsprachigen Raum noch nicht begegnet. Vorbildlich werden Hörschäden und ihre Diagnostik, Tinnitus und Hörsturz erklärt und die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Behandlung aufgezeigt. Im Abschnitt „Arbeitslärm, Freizeitlärm und laute Musik“ wird dann auch auf die Auswirkungen von Diskothekenbesuch und Walkman auf das Gehör eingegangen. Hörbelastungen durch das Spielen von Musikinstrumenten allein oder im Ensemble kommen aber etwas zu kurz. Hier hätte man sich auch auf Grund des Buchtitels eine umfassendere Darstellung der neuen Studien z. B. zur Lärmexposition in Orchestern gewünscht.
In den anschließenden Ausführungen zur Vorbeugung von Hörschäden wird der interdisziplinäre Charakter des Buchs deutlich. Die Autoren erklären unterschiedliche Formen der Prävention, technische Maßnahmen zum Hörschutz, und – meines Erachtens besonders verdienstvoll – Maßnahmen zur Hörerziehung. Gerade diese pädagogische Blickweise vermisst man in der Regel in den medizinisch betonten Aufklärungsschriften. Die Abschnitte zur Kultur der Stille, zum Wahrnehmungstraining und zur Audiopädagogik enthalten folgerichtig viele wertvolle Hinweise auf praktische Übungen, mit denen im Unterricht Schülerinnen und Schüler für das Thema Hören sensibilisiert werden. Im folgenden Kapitel werden sachkundig die Besonderheiten der Kommunikation mit Hörgeschädigten erläutert.
Das Buch schließt mit einer ausführlichen Darstellung der Musikwahrnehmung und der Hörgewohnheiten von Hörbehinderten. Vielen Lesern wird es neu sein, dass auch für Träger von Hörprothesen und Cochlear Implants Musik häufig eine wichtige Quelle emotionaler Kraft ist. Hier fehlen leider Hinweise auf die Arbeiten amerikanischer Kollegen, z. B. aus der Gruppe um Kate Gfeller. Diese Autoren konnten nachweisen, dass bei Trägern von Cochlear Implants musikalische Gehörbildung nicht nur die Musikwahrnehmung, sondern auch die emotionale Bewertung von Musik verbessert. Generell sind Hinweise auf wichtige Arbeiten aus dem Ausland spärlich, was durch das Streben nach übersichtlicher Darstellung bedingt sein mag.
Insgesamt ein sehr verdienstvolles Buch, in dem engagiert für einen verantwortungsvollen Umgang mit unserem wichtigsten Sinnesorgan, dem Ohr, geworben wird.
Eckart Altenmüller