Schlimp, Karen

Mein Vater war mein Lehrer

Lehren und Lernen in der klassischen indischen Musiktradition

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2004 , Seite 28

Ein Schüler wird, wenn er nicht schon in eine Musikerfamilie hineingeboren worden ist, Mitglied der Familie seines Meisters und lebt mit ihm als Sohn bzw. als Tochter zusammen. Dort lernt er von seinem Vater in stundenlangen Sitzungen durch Zuhören und Imitation.

Prolog – Alap1
Der Himmel verfärbt sich langsam, vom tief dunklen Nachtblau in die blaugraue Morgendämmerung. Der Ton einer Flöte über dem schwebenden Klang der Tanpura.2 – Tagesbeginn: Raga Lalita.3
Die erste Unterrichtsstunde beginnt früh, sowohl tageszeitlich als auch im Leben eines Musikers: Sein Vater übt und er darf ihn begleiten auf dem Saiteninstrument, der Tanpura. Auf ihr erklingt das SA, der Grundton, der die Ewigkeit repräsentiert und als Bordunton die Musik trägt, immer wiederkehrend, zeitlos und jedesmal neu. Er hört ihm zu, stundenlang, jahrelang und dann singt er seinem Vater nach. Irgendwann erfindet er dann selbst Phrasen und Melodien und bereichert die Musik seiner Vorväter.
Die Rede ist von einem klassischen indischen Instrumentalschüler, aufgewachsen in der Guru-Shishiya-Parampara,4 der traditionellen Form indischer Musikvermittlung. Früher war das Lernen in dieser Jahrhunderte alten Tradition den Nachkommen von Musikern vorbehalten. Später konnten auch Söhne anderer Berufsgruppen Musiker werden (inzwischen ebenso Töchter). Was sich aber erhielt, ist die Tradition der Vermittlung, die nur über familiäre Bande möglich ist. Das heißt: Ein Schüler wird Mitglied der Familie und lebt mit seinem Meister als sein Sohn (oder seine Tochter). Mit einem eigenen Ritual wird dieser Bund geschlossen und zeitlebens ist der Schüler seinem Meister, gleichbedeutend mit Vater, verpflichtet. Das heißt, der Schüler braucht für den Unterricht nichts zu zahlen, steht aber dem Lehrer auch zu allen Hilfsdiensten zur Verfügung. Der Lehrer wiederum ist für das künstlerische und familiäre Wohlergehen seines Schülers zuständig.5
Um allerdings als Sohn einer Nichtmusikerfamilie Musiker werden zu können – das heißt, Aufnahme in die Familie eines Lehrers zu finden –, musste man schon einige Hürden überwinden. Bhimsen Joshi, einer der berühmtesten indischen Sänger, lief als Kind viele Male von zu Hause weg, um einen Lehrer zu finden. Als er ihn gefunden hatte, wurde er im ersten Jahr gar nicht unterrichtet. Er tat Dienste für seinen Lehrer wie Wasser holen, Haus putzen oder was immer er ihm auftrug. „Er beachtete mich gar nicht. Dadurch testete er, ob ich es wirklich ernst meinte. Auch anschließend, als er begann, mich zu unterrichten, brachte er mir über Jahre hinweg nur drei Ragas bei. Erst nach einigen Jahren erachtete mein Lehrer meine Stimme reif genug für andere Ragas.“6 Ähnlich erging es auch Ustad Allandin Khan, dem Lehrer des im Westen sehr bekannten Musikers Ravi Shankar. Als er seinen Guru gefunden hatte, nahm dieser ihn nur unter der Bedingung als Schüler an, dass er einwilligte, zwölf Jahre lang nur Skalen, Solfeggien und Übungen zu spielen, bevor er ihn traditionelle Kompositionen lehrte.7 Die Voraussetzung, Musiker zu werden, ist demnach nicht abhängig von den musikalischen Fertigkeiten des Schülers, sondern von seinem Willen, sich ganz in den Dienst der Sache zu stellen.
Wie viel der Meister seinem Schüler weitergab, lag allein in seinen Händen. Er konnte ihn in alle Geheimnisse seiner Musizierkunst einweihen oder er konnte ihn als Diener ausnutzen, dem er die wahren Eigenheiten seiner Spielkunst vorenthielt. Das war abhängig von den Charaktereigenschaften des jeweiligen Lehrers und Schülers.

Unterrichtseinheiten
Unterricht ist das Leben des Meisters. Unterricht ist Zuhören. Unterricht ist, dem Tagesablauf des Meisters beizuwohnen, beispielsweise von den Morgengebeten, der Verehrung der Götter, dem stundenlangen Singen des tiefsten Tons zu Tagesbeginn bis zum gemeinsamen Praktizieren von Körperübungen. Unterricht ist den ganzen Tag üben, mit und ohne Meister. Unterricht ist das Begleiten des Meisters auf einer Konzerttournee, auf der dann, während einer langen Autofahrt, gemeinsam verschiedene Rhythmen rezitiert werden. Auf der Bühne sitzt der Schüler dabei, während sein Guriji,8 langsam, kunstvoll, den Alap eines Abendragas entfaltet. Unterricht kann auch so aussehen, dass dem Meister mitten in der Nacht eine geniale Phrase einfällt und er seinen Schüler weckt, um sie ihm vorzusingen. Und der Schüler ist dankbar, daran teilhaben zu dürfen. Unterricht ist nicht so sehr die technische Vermittlung von instrumentalen Fertigkeiten, Unterricht ist das Leben des Meisters selbst.
Zu Tagesbeginn erklingt Raga Lalita, eine Art modale Skala, die in den ersten Morgenstunden zu spielen ist. Dieser Morgenraga darf nur vor Sonnenaufgang gespielt werden. Der Schüler spielt nach, was sein Lehrer vorsingt: Töne, Phrasen, Wendungen, Melodien. Zuhören, Vor- und Nachspiel, das ist klassischer indischer Instrumentalunterricht. Ob instrumental oder vokal, das spielt keine Rolle. Ragas werden oft singend erlernt (immer mit den Solmisationsilben SA, RE, GA, MA, PA, DA, NI, SA) und dann erst auf dem Instrument gespielt, denn es geht um das Erfassen des Charakters eines Ragas (NB 1).
Raga ist, „was den Geist färbt“: So lautet die Übersetzung. Er ist Skala, Charakter, Tonart und Gesetzmäßigkeit von Tonkombinationen gleichzeitig. Mit einer Gruppe von Tönen entwickelt der Musiker unter Beachtung fester Regeln ein Thema, meist in improvisierter Form. Er stellt einen Gefühlszustand, eine besondere seelische Stimmung dar und ist bestimmten Tages- und Jahreszeiten und Göttern zugeordnet. Dies erklärt, warum seit uralten Zeiten der Empfindungsgehalt eines Ragas stets ein Lieblingsthema der Dichter und Maler war. Es gibt zahlreiche Gedichte und Gemälde, die den Inhalt der Ragas schildern.
Die Übereinstimmung erfolgt nicht auf technischer, sondern ausschließlich auf emotionaler Ebene. Der geschilderte Gegenstand soll im Betrachter eine ähnliche Einstellung bewirken wie die Musik im Hörer. So wird der eingangs erwähnte Raga Lalita, gleichzeitig Tonskala, musikalische Morgenstimmung und Name einer Göttin, folgendermaßen beschrieben: „Lalita, jung und schön, trägt ein Halsband aus siebenerlei Blüten. Ihre Augen sind länglich wie die Blütenblätter eines Lotus. Noch angetan mit einem Gewand für ein Schäferstündchen, seufzt sie in der Morgendämmerung, besiegt durch das Schicksal.“9
Einen Raga zu erlernen bedeutet, sich von ihm durchdringen zu lassen, ein modales Bewusstsein zu erlangen.10 „Die Zeit, die wir bei einem Guru verbringen, wird ausschließlich darauf verwandt zu versuchen, das System zu verstehen, auf dem die indische Musik aufbaut. Dein Lehrer sagt dir eigentlich nicht, wie man improvisiert. Es ist einzig und allein Sache des Schülers, sich durch die unmittelbare Erfahrung intuitiv die verschiedenen Methoden anzueignen, nach denen indische Musik gespielt wird… Es spielt sich also so ab, daß dein Lehrer, wenn er dir einen bestimmten Raga beibringen will, dir nicht etwa sagt: ,Die tonale Struktur dieses Ragas ist folgendermaßen aufgebaut, und dies sind die Töne, die verwendet werden‘, sondern er läßt dich zuhören, und vielleicht fordert er dich auf, bestimmte Wendungen nachzuspielen. Und allmählich entwickelst du ein Gespür für diesen Raga. Und schließlich kommst du in das Stadium, wo du nicht mehr nur die Wendungen wiederholst, die dir dein Lehrer beigebracht hat, sondern du fängst an, eigene Wendungen in diesen Raga einzubringen.“11
Ein Gefühl für den Modus zu haben, bedeutet zu erkennen, welche Töne „die Kartoffeln und welche die Gewürze“ sind. Mit dieser Metapher versucht Venkat Balaji, Violinprofessor an der Universität in Benares, seinen westlichen Schülern zu verdeutlichen, dass es Haupt- und Nebentöne eines Ragas gibt. Manche Töne soll man oft verwenden, mit anderen sehr sparsam umgehen, sie nur ab und zu einbringen. Diese Metaphern werden nur für westliche Musiker verwendet, denn im Unterschied zu indischen Musikern wird ihnen ab und zu etwas erklärt. Im traditionellen indischen Unterrichtssystem wird nur über Vorspiel und Nachspiel gelernt und gelehrt. Erklärt wird kaum etwas. Denn wenn man jahrelang Töne, Phrasen und Melodien eines Ragas nachgesungen hat, sind sie verinnerlicht. Der Musiker ist dann in der Lage eigene Wendungen zu spielen, zu improvisieren.

Komponiert und improvisiert gleichzeitig
Lernt man indische Musik, lernt man gleichzeitig Komposition und Improvisation. Indische Musiker unterscheiden nicht zwischen beiden. Sie sind gleichsam Erschaffer und Erneuerer eines Stücks, indem sie in einem bestimmten Raga improvisieren und dabei auch ein Stück erfinden, über das sie wieder Varianten bilden. Es gibt allerdings auch Kompositionen im westlichen Sinne, meist Lieder oder Gesänge über religiöse oder literarische Texte, die von den Vorfahren überliefert sind. Diese bilden dann das Ausgangsmaterial für Improvisationen. Ähnlich verhält es sich mit dem Rhythmussystem, genannt Tala: Jeder Musiker erlernt in Form von Silben verschiedenste Kombinationsmöglichkeiten von Rhythmen. Zuerst wieder durch Imitation. So werden z. B. alle Kombinationsmöglichkeiten in einem 12er Zyklus durchgeübt: 3333, 3324, 5322… Takite-takite-takite-takite; Takite-takite-taka-takadimi, Takatakite-takite-taka-taka… Durch stundenlange Repetitionen werden die Rhythmen eingeübt. Nach einiger Zeit ist der Schüler fähig, selbst Kombinationen in das Musikstück einzubauen. Der Lehrer rezitiert eine Phrase, der Schüler antwortet mit einer neuen.
Lernen in der indischen Musik heißt nicht, unbedingt nur ein Instrument zu lernen, es bedeutet eher, einen Stil zu lernen. So ist es zum Beispiel für Fortgeschrittene auch üblich zu einem Lehrer zu gehen, um dessen spezielle Musizierweise zu lernen, seinen individuellen Umgang mit diesem oder jenem Raga. Eine Instrumentalklasse kann demnach auch aus verschiedenen Instrumentalisten zusammengesetzt sein, die dann auf ihrem jeweiligen Instrument nachspielen, was ihr Guru ihnen vorsingt.
Auch der spirituelle Aspekt der Musik ist vielen Lehrern wichtig. Wenn der Lehrer das Gefühl hat, dass sein Schüler reif genug ist, lehrt er ihn beispielsweise verschiedene Yogaübungen zur Aktivierung und Vertiefung der körperlichen Wahrnehmung. Eine Intensivierung des musikalischen Empfindens und eine Konzentration des Klangs ist die Folge. Auch die Sammlung vor und während des Spiels wird erleichtert. So bedeutet Unterricht auch das Denken und Fühlen hinter der Musik zu erlernen.

Tagesablauf eines indischen Lehrers
Balaji ist Violinlehrer in Benares,13 „the City of Learning and Burning“, wie es so schön über die traditionsreichste indische Stadt heißt. Es ist die Stadt, in der alle gläubigen Hindus ihre Toten verbrennen wollen, um die Asche in den heiligen Ganges zu streuen. Es ist ein Ort, an dem fachkundige Meister aller Sparten vertreten sind. An der Benares Hindu University kann man neben vielen anderen Fächern auch Musik studieren, und zwar klassische indische Musik nach dem englischen Studiensystem (Bachelor, Master and Doctor of Indian Music).
Balaji versucht in seiner Person fern voneinander Liegendes zu vereinen: Indische Tradition und englisches Universitätssystem, heimische Lebensweise und westlichen Zeitplan. Tagsüber unterrichtet er auf der Universität große Gruppen, jede Nacht kommen seine Privatschüler (drei bis fünf) und erhalten ein paar Stunden Unterricht. Anschließend schreibt er noch musiktheoretische Werke wie etwa zur Entwicklung der Violine in Indien. Oder erfindet einen neuen Raga. Dafür hat er sein Doktorat bekommen: Er hat einen Raga erfunden, der nur aus Aufwärtsbewegungen besteht. So etwas gab es bisher in der indischen Musik noch nicht.
Indische Musik wird auf der Universität in Gruppen unterrichtet. Seine Klasse besteht aus fünf bis zwölf Studenten, die ihm zuhören. In jedem Unterricht wird vorgespielt oder vorgesungen, alle Studenten spielen nach. Bei besonders gelungenen Phrasen der Improvisation lächeln alle Studenten beglückt über die Genialität ihres Meisters, vor allem wenn sie nicht gleich imstande sind sie nachzusingen. Wenn der Meister gut gelaunt ist, wiederholt er die Phrasen noch einmal langsam in Solmisationssilben, damit sie leichter verständlich sind.
Da es um imitatorisches Lernen von Melodien oder Rhythmen geht, spielt die Anzahl der Studenten keine Rolle: Wer die Phrase beim erstenmal erfasst, ist gut, wer nicht, hört immer wieder neue Phrasen, um sie zu imitieren.
Auch wenn die Unterrichtsweise westlicher geworden ist, ist die alte indische Tradition noch stark spürbar. Ein ernsthafter indischer Musiker sucht sich noch immer einen privaten Lehrer, selbst wenn er auf der Universität sein Diplom macht. Oft übernimmt auch der Universitätslehrer während der Studienzeit beide Funktionen und bestimmt als Lehrer den Tagesablauf seiner Schüler und bindet sie in seine Familie ein.
Ein Musiker kann auch bei verschiedenen Lehrern lernen. Der derzeitige Lehrer spricht dann immer voller Respekt vom vorigen Lehrer, weil dieser den Schüler so weit gebracht hat. Die Bande zwischen Lehrer und Schüler bleiben lebenslang bestehen. Die Liebe zur Musik ist auch gleichbedeutend mit der Liebe zum eigenen Lehrer.
Im Musikzimmer des Musikers hängt das Bild seines Lehrers und ein Bild oder eine Skulptur von Sarasvati, der Göttin der Künste und des Lernens. Beide werden vor jedem Musizieren mit einem Räucherstäbchen bedacht und geehrt. Dabei wird um Segen gebeten. Der Unterricht wird auch immer wieder mit Geschichten aus der indischen Mythologie ergänzt. Da indische Musik in starker Verbindung mit indischer Religion steht, sind indische Musiker oft auch spirituelle Meister und vermitteln ihre religiöse Einstellung und Praxis.

Lernen durch miteinander Leben
Ravi Shankar, der in seinem Buch My Music, my Life die Hauptanliegen der traditionellen Lehrer-Schüler-Beziehung zusammenfasst, schreibt, an erster Stelle stünden „Reinheit von Geist und Körper, Demut und Bescheidenheit, eine hingebungsvolle und spirituelle Haltung“ und an zweiter Stelle „eingehende Grundlagen von instrumentaler Technik und musikalischem Allgemeinwissen“.15 Dies macht sehr deutlich, dass es in der indischen Musikvermittlung auch um Einstellung, Haltung und Persönlichkeit der Musizierenden geht, die nur in einem Miteinander-Leben vermittelt werden kann. Auch der dritte Punkt, den Ravi Shankar anführt, „die schrittweise Entwicklung des Schülers im Hintergrund seines Lehrers, mit dem er an Konzerten teilnehmen und mitspielen kann, wenn er dazu aufgefordert wird, bis ihn der Lehrer für reif genug erklärt, selbst Konzerte zu geben“,16 zeigt, dass es auch hier um ein natürliches Hineinwachsen des Schülers in herausfordernde Situationen, in diesem Fall die Konzertsituation, geht. Lampenfieber gibt es nicht, da der Schüler schon jahrelang begleitend oder einige wenige Phrasen intonierend mitgewirkt hat. Das, was er bei, von und mit seinem Meister gelernt hat, bringt er dabei zum Klingen, erweitert um seine eigene Kreativität. Spielt ein Schüler als führender Melodiespieler auf der Bühne, dann ist er selbst schon Meister.

Die wichtigsten Aspekte des Instrumentalunterrichts in Indien

> Rolle des Lehrers
Der Lehrer spielt eine sehr große Rolle, begründet im indischen Familiensystem. Aber auch dadurch, dass der indische Musiker Träger der Musik ist, das heißt, dass die Musik unabhängig von ihm nicht existiert, da die Kompositionen nicht als Partituren zur Verfügung stehen.

> Hierachie in der Lehrer-Schüler-Beziehung
Indien ist geprägt von familiären Beziehungsstrukturen. Die vorhergehenden Generationen sind zeitlebens Autorität und werden verehrt. Da die Lehrer-Schüler-Beziehung einer Eltern-Kind-Beziehung entspricht, ist der Lehrer die höchste Autorität, die es nicht zu hinterfragen gilt.

> Entwicklung des Schülers
In Indien geht es darum, sich in vorhandenen Strukturen zu entwickeln, zu lernen, wie der Lehrer gelernt hat und erst im Ausarbeiten eigener Melodien und Rhythmen innerhalb fixer Regeln langsam eine Eigenständigkeit zu entwickeln und damit seine Improvisationskunst zu zeigen.

> Üben
Im Unterricht wird dauernd gespielt, es wird daher nicht zwischen Spielen und Üben unterschieden. Ist der Lehrer nicht da, spielt der Schüler für sich und probiert selbst Wendungen im gelernten Raga aus. Kommt der Lehrer dazu, singt oder spielt er ihm wieder vor.

> Unterrichtsfrequenz
Traditionell beim Guru wohnend: nach Lust und Laune des Meisters (auch mitten in der Nacht oder lange kein Unterricht), in der Regel aber ein bis drei Mal am Tag, mehrere Stunden lang.
Im jetzigen Privatunterrichtssystem: drei bis sechs Mal in der Woche oder in Intensivphasen (beispielsweise 2-monatiger Besuch bei einem Lehrer) bis zu zwei Mal täglich mehrere Stunden.
Auf den Universitäten: fünf Mal in der Woche vormittags und nachmittags jeweils ca. drei Stunden.

> Unterrichtsdauer
In der indischen Musik ist der Schüler von Anfang an mit dem ganzen Kunstwerk konfrontiert. Ein Raga lässt sich schwer in „leichte und schwere Stücke“ einteilen. Das Lernen erfolgt rein auditiv, da indische Musik in der Regel nicht notiert wird. Ein Schüler kann die Musik nur von seinem Guru lernen. Das erklärt auch die lange Unterrichtsdauer: mindestens zwölf Jahre. Nach oben gibt es dabei keine Grenzen. Manchmal treten Musiker erst mit 40 bis 50 Jahren auf.

> Unterrichtsverlauf
Die Komplexität eines indischen Ragas bzw. eines Musikstücks verlangt eine Sicherheit im Umgang mit Bausteinen, aber vor allem ein Gesamtgefühl für den Raga. Aus diesem Grund legen in Indien Lehrer sehr viel Wert auf jahrelange Basisstudien von Skalen, Melodievariationen, Tonkombinationen. Sie sind Grundlage, einen Raga spielen zu können. Ist man mit dem Material vertraut, spielt man oft jahrelang nur einen Raga, auch wenn es dreihundert gebräuchliche und in den Sanskritschriften sechzehntausend Erwähnte gibt.

> Kommunikation im Unterricht
Die gängigste Kommunikation ist Imitation. Manchmal stellt der Schüler eine Frage, die ihm beantwortet wird, meist zu Ende der Unterrichtseinheit. Manchmal erklärt der Lehrer etwas in Form einer Metapher oder erzählt etwas aus der indischen Musikgeschichte. Lob erhält der Schüler in den seltensten Fällen, „damit er nicht stolz wird und zu üben aufhört“.14

1 Alap ist der Einleitungsteil eines indischen Musikstücks. Die Töne des Raga werden langsam eingeführt. Das Musikstück wird meist nach dem Raga benannt, in dem gespielt wird.
2 auch Tamburi genannt.
3 Raga Lalita ist einer der indischen Morgenragas und wird nur zu Tagesbeginn gespielt.
4 Guru ist das indische Wort für Lehrer, Shishiya heißt Schüler, Parampara bedeutet Traditionslinien, in denen musikalisches Wissen in ununterbrochener Folge von Lehrern an Schüler weitergegeben wird.
5 Das Sorgen für den Schüler kann so weit gehen, dass der Lehrer, wie es in der indischen Tradition üblich ist, als „Vater“ eine Ehepartnerin für seinen Schüler sucht.
6 Alka Raghuvanshi: A Moment in Time – with legends of Indian Arts, Rakesh Press, Dehli 1996, S. 108.
7 Ravi Shankar: My Music, My Life, Vikas Publishing, Dehli 1969/1992, S. 52.
8 Bezeichnung für die Verehrungsform seines Meisters.
9 Alain Danielou: Einführung in die Indische Musik, Heinrichshofen, Wilhemshaven 1991, S. 58, weitere Quellenangaben dort.
10 ebd., S. 141 f.
11 Derek Baily: Improvisation, Kunst ohne Werk, Wolke, Hofheim 1987, S. 24 f.
12 Danielou, a. a. O., S. 58.
13 Benares wird offiziell Varanasi genannt, bei den Indern ist allerdings der alte Name in Gebrauch.
14 Zitat von Venkat Balaji während der Erläuterung einer Unterrichtsstunde an der Benares Hindu University.
15 siehe Anm. 7.
16 siehe Anm. 10.